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»Die DDR hatte auch komische Musik«, das erzählt Ibraimo Alberto in der Webdokumentation »Eigensinn im Bruderland« (www.bruderland.de). Er beschreibt die Stimmung, wenn er zusammen mit anderen mosambikanischen Vertragsarbeiter*innen in die Disco ging: das ständige Angestarrt-Werden. Doch »wir haben nie gesagt, ›was guckt ihr‹, das konnten wir nicht«, fügt er hinzu. Er erinnert sich an die Unsicherheit, die spürbare Wut weißer Discobesucher*innen, das Interesse, das manche deutsche Frauen zeigten, und an den Spaß beim Tanzen. Und dass sie sich amüsierten, »wie manche einheimische DDR-Bürger« sich bewegten.
Zurückhaltender erzählt Orquídea Chongo von ihrer Freizeit in der DDR. Für mosambikanische Mädchen und Frauen war es noch schwieriger, auszugehen, Deutsche kennenzulernen. Meist blieben sie im Wohnheim und machten dort ihre eigene Disco. Die 19-jährige Orquídea kam von Maputo nach Luckenwalde.
Für die Webdoku »Eigensinn im Bruderland« – ausgezeichnet mit einem Grimme Online Award 2020 – haben wir, Julia Oelkers, Mai-Phuong Kollath und Isabel Enzenbach, neun DDR-Migrant* innen aus Mosambik, Vietnam, Äthiopien, Chile und der Türkei über ihren Alltag und ihre Selbstbehauptung in der DDR interviewt. Dabei entstand ein vielschichtiges Bild, denn die Erfahrungen der jungen Frauen und Männer unterscheiden sich fundamental.
Die 16-jährige Vietnamesin Pham Thi Hoai konnte nach ihrem Abitur mit Bestnote in der DDR studieren, wenn auch nicht selbst das Fach wählen. »Schließlich bin ich aus einer total indoktrinierten Schülerin, auch einer sehr uniformierten Streberin, eine recht rebellische Studentin geworden«, erzählt sie. Sie hatte deutsche Freund*innen, bewegte sich in Intellektuellenzirkeln und war mit der Friedensbewegung in Kontakt. Schließlich besetzte sie eine Wohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg .
Nguyen Do Thinh kam fünf Jahre später als Hoai in die DDR. Er musste in Rostock als »Umschlagarbeiter« im Überseehafen arbeiten, gefrorene Schweinehälften oder Zementsäcke schleppen, die oft fast genauso schwer waren wie er selbst. Ausgerechnet im Arbeiter- und Bauernstaat DDR hatten die Arbeiter*innen die schlechtesten Bedingungen. Schließlich schaffte es Thinh, sich eine Qualifizierung als Betriebsschlosser zu erkämpfen – Anerkennung blieb ihm trotz aller Bildungserfolge und allem Engagement häufig verwehrt.
DDR-Universitäten boten Studierenden eine gute Ausbildung, viele Freiheiten und Anregungen, so das Fazit von Alemayehu Gebissa. Er ist sehr zufrieden, dass er als Sohn äthiopischer Bauern eine internationale Karriere machen konnte. Heute lehrt er als Professor für Geotechnik und Küstenwasserbau an der Universität Rostock.
Auch der chilenische Theatermacher Carlos Medina ist dankbar: 1973, nach dem Militärputsch in Chile, bot ihm die DDR Zuflucht. Er landete nicht, wie von den Behörden geplant, in der Produktion, sondern es gelang ihm, gemeinsam mit anderen Chilenen weiter Theaterstücke zu inszenieren. Stolz erzählt er von seiner Arbeit am Berliner Ensemble. »Die Leute haben gehört, Chilene! Ah und sofort ›Venceremos‹!« Spontan streckt er noch heute die Faust in Luft, wenn er erzählt, wie viele DDR-Bürger* innen chilenischen Migrant*innen begegneten.
Die Perspektive: Erzählte Alltagserfahrungen und in Akten dokumentiertes
»Eigensinn im Bruderland« erzählt aus zwei Perspektiven: Migrant* innen schildern in Videointerviews ihre Alltagserfahrungen. Wir haben sie danach gefragt, wie sie überhaupt in die DDR gekommen sind, aus welchen Lebensrealitäten, mit welchen Erwartungen und Träumen. Wie haben sich die drei wesentlichen Wege, auf denen man kommen konnte – als Vertragsarbeiter* in, als Studierende*r oder als politische* r Emigrant*in – auf die Lebenssituation ausgewirkt? Und wir haben auch gefragt, wie unsere Interviewpartner* innen wohnten, wie sie das Essen fanden (schrecklich!), welche Freizeitmöglichkeiten es gab, wie man feiern konnte, wie sie untereinander organisiert waren, welche Probleme sie hatten und welche Strategien, sie zu lösen.
Uns interessierte, welche unterschiedlichen Erfahrungen Männer und Frauen machten, wie es mit Liebesbeziehungen aussah, was passierte, wenn Frauen schwanger wurden.
Schließlich akzeptierten weder die Entsendeländer noch die DDR-Gesellschaft sexuelle Selbstbestimmung und binationale Partnerschaften. Mai-Phuong Kollath erzählt eindrücklich, wie beschämend es war, gleich nach der Ankunft öffentlich von der Frauenärztin befragt zu werden: »Bist du schwanger? Hast du eine Geschlechtskrankheit?« »Du weißt nicht, wohin mit der Scham«, erinnert sie sich.
Die zweite Perspektive der Webdokumentation basiert auf Aktenrecherchen: Wir haben in Archiven nach Dokumenten verschiedener Behörden zur DDR-Migrationsgeschichte geforscht. Viele Funde haben uns verblüfft: Zum Beispiel der hartnäckige Widerstand einer jungen, schwangeren Mosambikanerin, die ihre Abschiebung hinauszögern – aber nicht verhindern konnte.
Die Berichte in den Akten zeugen von Eigensinn und Kampfbereitschaft: Vietnamesische Lehrlinge streiken für eine tägliche Reismahlzeit; mosambikanische Arbeiter*innen weigern sich, »Sklavenarbeit« zu leisten und erklären den DDR-Kolleg*innen, dass es sich bei ihrem Verhalten um Rassismus handelt. Doch die Akten zeugen in erschreckendem Maße auch von rassistischen Angriffen, von immer wiederkehrender Nicht-Verfolgung deutscher Angreifer, von Bevormundung und Ungleichbehandlung.
Ende der Freundschaft
Schon vor der Zäsur des Mauerfalls brach für viele Migrant* innen die proklamierte Völkerfreundschaft jäh ab: Viele wurden umstandslos ins Herkunftsland abgeschoben. Als Gründe dafür galt der dehnbare Vorwurf des »schwerwiegenden Verstoßes gegen die sozialistische Arbeitsdisziplin« sowie eine länger als drei Monate andauernde Arbeitsunfähigkeit. Diese Begründung rechtfertigte die Abschiebung schwangerer Frauen ebenso wie jener, deren Arbeitsfähigkeit aufgrund von langwierigen Krankheiten, Kriegstraumata oder anderen psychischen Beschwerden eingeschränkt war. Sie wurden in ihre Herkunftsländer abgeschoben, auch wenn dort Bürgerkrieg herrschte.
1989/90 hörte der Staat auf zu existieren für den die Migrant* innen eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis hatten. Rassismus, Gewalt und Ablehnung schlugen den Migrant*innen vermehrt entgegen. Ihr Bleiberecht stand infrage, Arbeits- und Wohnungslosigkeit beraubten viele ihrer Perspektiven in Deutschland. »Ausländer raus, Ausländer raus«, David Macou hat die Rufe bei den Pogromen in Hoyerswerda noch im Ohr. »Die wollten, dass wir nach zwölf Jahren nach Mosambik zurückfliegen ... ich weiß nicht, was wir falsch gemacht haben. Wir haben im Tagebau, die Kohle … wir haben Schulter an Schulter intensiv gearbeitet. Das werde ich niemals verstehen. ... Auf einmal zum Dankeschön hat man Steine geworfen«, berichtet er von seinen Erfahrungen mit der deutschen Einheit.
»Eigensinn im Bruderland« erzählt von migrantischen Alltagserfahrungen und dem Kampf um Akzeptanz eigener Vorstellungen, um Respekt und Anerkennung. Rassistische Erfahrungen ziehen sich durch alle Kapitel, sowohl von den Strukturen der DDR-Gesellschaft geprägt, als auch durch persönliche Angriffe von Nachbar*innen, Chef*innen und Kolleg*innen. Der tiefe Graben zwischen dem Ideal internationaler Solidarität und einer in Wirklichkeit rassistisch geprägten Kultur wird so anschaulich. Migrationsgeschichte der DDR aus dem Blickwinkel der Migrant* innen verschiedener Statusgruppen: ihnen zuzuhören lohnt!
»Eigensinn im Bruderland« ist ein Projekt des Zentrums für Antisemitismusforschung TU Berlin und out of focus medienprojekte, gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Rosa-Luxemburg- Stiftung.
Dr. Isabel Enzenbach ist Historikerin und Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung TU Berlin. Sie beschäftigt sich vor allem mit Antisemitismus, Rassismus, Migration, sowie Visual und Oral History.