»Rassismus ist ein Virus in der Gesellschaft, das uns alle angeht.«

2013 zog Karamba Diaby als erster Schwarzer Abgeordneter in den Deutschen Bundestag ein. »Der Presse fiel es anfangs schwer, mich als normal gewählten Volksvertreter anzunehmen, der seine Ausschussarbeit macht«, sagt Diaby, dessen Schwerpunkt die Bildungspolitik ist. Rassistische Angriffe erlebt er immer wieder, im Januar 2020 wurde auf sein Büro in Halle geschossen. Diaby setzt sich für den Zusammenhalt der Gesellschaft ein.

Foto: privat/ Karamba Diaby

Ute Brenner: Sie kamen Mitte der 1980er Jahre mit 24 Jahren zum Studium in die DDR. Wie kam es dazu?

Dr. Karamba Diaby: Ich hatte Abitur im Senegal gemacht und als Waisenkind war ich dann damit konfrontiert, dass ich keine finanziellen Mittel hatte, um zu studieren. Meine Mutter war gestorben, als ich drei Monate alt war, mein Vater, als ich sechs war. Darum habe ich mich um ein Stipen- dium bemüht. Ich hatte das Glück, dass es in der DDR die Möglichkeit für engagierte jüngere Menschen gab, ein Stipendium zu bekommen. Dafür bin ich dankbar.

Ein paar Jahre später kam die Wende. Wie ging es Ihnen persönlich vor der Wende, wie danach?

Meine Anfangsphase in der DDR war für mich dadurch geprägt, dass ich die Möglichkeit bekommen hatte, zu studieren. Ich habe mich auf mein Studium konzentriert. Genauso wie alle anderen internationalen Studierenden lebte ich im Studentenwohnheim, man war da in seiner sogenannten Studentenblase. Von der DDR-Realität hat man nicht viel mitbekommen, außer dass es die bekannten Einschränkungen gab, also keine Reisefreiheit oder keine Meinungsfreiheit. Aber ansonsten hat man sehr wenig vom politischen Alltag mitbekommen. 1989 kam dann die Wende, die friedliche Revolution. Das war für uns als internationale Studierende ein riesengroßer Bruch. Die DDR-Bürger*innen waren selbst verunsichert. Viele waren auf der Straße, aber man wusste nicht, zu welchem Ergebnis das alles führen würde. Wir waren beunruhigt, weil wir nicht wussten, was auf uns zukommt: Der Staat, der uns eingeladen hatte, hier zu studieren, fing an zu bröckeln und man wusste nicht, wie es weitergeht. Ich hatte panische Angst, dass ich mein Studium nicht beenden könnte, dass ich vielleicht nach Hause geschickt werden würde. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) übernahm glücklicherweise die Stipendien internationaler Studenten. Heute bin ich übrigens im Bildungsausschuss des Deutschen Bundestags Berichterstatter für Internationalisierung und unter anderem für den DAAD zuständig.

Sie haben über Schadstoffbelastungen in Schrebergärten promoviert. Warum sind Sie dann in die Politik gegangen? Was wollten Sie bewegen?

Ich war bereits im Senegal politisch engagiert. Das heißt, dass ich mich gegen Ungerechtigkeiten, wie ich sie als Waisenkind selbst erlebt habe, eingesetzt habe. In der DDR war ich Sprecher der internationalen Studierenden und habe das auch nach der Wende fortgeführt. Ich war in vielen Vereinen, Verbänden und in der Wohlfahrtspflege aktiv. So ist mein Interesse an der Politik weiter gewachsen. 2009 hat mich die SPD gefragt, ob ich in Halle für den Stadtrat kandidieren möchte. Das habe ich gemacht und war dann sechs Jahre lang ehrenamtlich tätig. 2013 bin ich in den Deutschen Bundestag gewählt worden. Als Naturwissenschaftler, als Chemiker ist man im Parlament fast ein Exot. Ich finde es wichtig, dass die Vielfalt des Bundestags zum Thema gemacht wird: Wie gelingt es uns, die Vielfalt der Gesellschaft dort zu repräsentieren? Menschen mit Migrationshintergrund machen im Bundestag nur acht Prozent aus; in der Gesamtbevölkerung haben sie dagegen einen Anteil von etwa 25 Prozent. Das ist ein Armutszeugnis für das Parlament. Dasselbe gilt auch für viele andere Gruppierungen, die nicht angemessen im Bundestag repräsentiert werden.

Sind Sie seit Ihrer Wahl als erster Schwarzer* Abgeordneter in den Bundestag noch stärker darauf festgelegt worden, über Rassismus zu sprechen?

Es war am Anfang für die Presse nicht so einfach, mich als normal gewählten Abgeordneten anzunehmen, der seine Ausschussarbeiten hat. Ich bin seit der ersten Legislaturperiode, in der ich gewählt wurde, zum Beispiel im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Es gibt also sehr viele Themen, zu denen man mir Fragen stellen könnte. Allerdings hat sich herausgestellt, dass ich sehr oft zum Thema Rassismus befragt werde. Ich wünsche mir natürlich, dass meine eigentlichen Arbeitsschwerpunkte mehr Aufmerksamkeit bekommen, wie etwa die Internationalisierungsstrategie der Bundesregierung, die Anerkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse, aber auch die Frage, wie wir es hinkriegen, dass mehr junge Menschen Medizin studieren. Das heißt nicht, dass man nur Weiße zu Rassismus und Diskriminierung befragen soll, die dann über Schwarze reden. Von Rassismus Betroffene und potenzielle Opfer sollen nach ihrer Perspektive gefragt werden, aber nicht nur dazu.

Wie hat sich das Klima durch den Einzug der AfD in den Bundestag verändert?

Seit der letzten Bundestagswahl hat sich die Stimmung sehr negativ verändert. In den Landtagen und vor allem auch im Bundestag hört man sehr viele hasserfüllte und aggressiv aufgeladene Redebeiträge, die Menschen und Minderheiten in diesem Land herabsetzen und erniedrigen. Das ist besorgniserregend, weil diese Botschaften die Gesellschaft spalten. Diese Redebeiträge sind die Vorstufe für Gewalt auf der Straße. Wenn es in gewählten Parlamenten Hassbotschaften in den Redebeiträgen gibt, motiviert das Menschen zu Taten. Es ist die Aufgabe von uns allen, nicht nur von Politiker*innen, die Stimme gegen Hassbotschaften zu erheben.

Im Januar wurde auf Ihr Bürgerbüro in Halle geschossen. Es ist nicht die erste Attacke auf Sie beziehungsweise Ihr Büro gewesen: Wie gehen Sie damit um?

Solche negativen Ereignisse lassen mich nicht unberührt. Ich kann nicht sofort wieder zur Tagesordnung übergehen, wenn so etwas passiert. Allerdings habe ich nach solchen Erlebnissen auch immer sehr viele Solidaritätsbekundungen bekommen, zum Beispiel von Schulklassen, die Unterschriften gesammelt haben, um ihre Unterstützung zu zeigen. Leute sind in Halle mit Blumensträußen zu mir gekommen, ich habe auch viele E-Mails bekommen. Das alles stärkt mich, weil ich weiß, dass ich Rückendeckung für die Arbeit habe, die mein Team und ich machen. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Menschen, die so etwas tun, sind laut und präsent, aber sie sind nicht die Mehrheit in diesem Land.

Wird aus Ihrer Sicht als Bildungspolitiker das Thema Kolonialismus in der Schule, in den Medien und auch in Museen angemessen behandelt?

In Bezug auf Kolonialismus und insgesamt die Erinnerungskultur ist noch Luft nach oben. Ich wünsche mir, dass das Thema Kolonialismus in den Lehrbüchern offensiver angegangen wird, denn wer die Geschichte aufarbeiten will, muss auch umfassend über die Geschehnisse berichten. In Museen und Ausstellungen müsste das Thema noch mehr Beachtung finden. Die Debatte darüber gibt es und es ist wichtig, das weiter zum Thema zu machen. Zum Beispiel sollten auch Vorbilder in der Geschichte des afrikanischen Kontinents in den Lehrbüchern vorkommen. Ich nenne Anton Wilhelm Amo, der im 18. Jahrhundert an der Universität in Halle studiert und promoviert hat. Er war der erste bekannte Philosoph und Rechtswissenschaftler afrikanischer Herkunft in Deutschland.

Es wird viel über Rassismus in der Polizei gesprochen. Was braucht es aus Ihrer Sicht, um diesem Problem entgegenzuwirken?

Studien über rassistische Tendenzen, auch in der Polizei, sind wichtig und sollten zugelassen werden. Ich verstehe die Haltung des Bundesinnenministers Horst Seehofer überhaupt nicht, der eine Studie zu Rassismus in der Polizei bis vor kurzem noch ablehnte. Eine Studie zu machen, bedeutet nicht, dass man der Polizei Rassismus unterstellt. Aber inzwischen sind Fälle aus fast allen Bundesländern bekannt geworden, in denen Polizistinnen und Polizisten in Chatgruppen rassistische und antisemitische Meinungen vertreten haben. Es ist wichtig, dass so etwas enthüllt wird. Denn das sind Beamte, die einen Eid auf die Verfassung geleistet haben. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die interkulturelle Kompetenzförderung der Sicherheitsbehörden, ihre interkulturelle Bildung und Öffnung. Das ist eine bedeutende Erkenntnis aus der Arbeit des Untersuchungsausschusses zu den Morden des NSU. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) ist sehr engagiert. Diese Menschen, die innerhalb der Strukturen kämpfen, um eine ordentliche Arbeit zu machen und die Fahne der Rechtsstaatlichkeit hochzuhalten, müssen wir stärken.

Die Black-Lives-Matter-Bewegung* hat auch in Deutschland eine breite Debatte zum Thema Rassismus angeregt: Sehen Sie Fortschritte und positive Entwicklungen in Deutschland?

Durch die Black-Lives-Matter-Bewegung wurde die Diskussion angefacht. Davor wurde das Thema Rassismus gelegentlich diskutiert, aber erst durch den Tod von George Floyd kam deutlich mehr Bewegung hinein. Außerhalb der USA war das vor allem auch in Deutschland der Fall. Es ist gut, dass sich die Öffentlichkeit mit dem Thema auseinandersetzt und die Sensibilität im Umgang mit dem Thema geweckt wurde. Das ist ein Fortschritt. Denn wir haben gesehen, dass es eine starke Zivilgesellschaft gibt, die Nein zu menschenfeindlichen und rassistischen Anfeindungen sagt. Bei den Demonstrationen waren nicht nur Schwarze Menschen, sondern auch weiße Menschen auf der Straße.

Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA ist in Deutschland wieder die Debatte darüber aufgeflammt, den Begriff Rasse aus Artikel 3 des Grundgesetzes zu streichen.

Nur rassistische Theorien gehen davon aus, dass es Menschenrassen gibt. Insofern sollte der Begriff »Rasse« gestrichen und ersetzt werden. Wir müssen hier mit einem anderen Konzept arbeiten und zwar mit der rassistischen Diskriminierung. Ich verstehe die reflexartige Ablehnung der Konservativen überhaupt nicht. Es ist nicht so, dass das, was 1949 aufgeschrieben wurde, heute nicht geändert werden darf. Begriffe entwickeln sich im Laufe der Zeit. Ich plädiere dafür, dass wir diese Debatte weiterführen und gemeinsam schauen, was an dieser Stelle alternativ formuliert werden kann, damit die Streichung des Begriffs Rasse erfolgt.

Was wünschen Sie sich von Menschen, die nicht von Diskriminierungen betroffen sind – im Alltag, in den Institutionen, in der Gesellschaft?

Im Alltag ist es wichtig, sich auch als nicht von Rassismus Betroffener klarzumachen, dass Rassismus ein Virus in der Gesellschaft ist, das uns alle angeht. Das heißt, wo immer die Menschenwürde in Frage gestellt wird, haben wir alle die Aufgabe, uns solidarisch zu zeigen, aber auch Zivilcourage zu beweisen und uns in Debatten einzuschalten. Im öffentlichen Dienst arbeiten nur wenige Menschen mit Migrationsgeschichte, nur sechs Prozent der Redaktionschefinnen und -chefs der reichweitenstärksten Medien haben laut einer Studie der Organisation Neue deutsche Medienmacher eine Migrationsgeschichte, im Deutschen Bundestag sind es nur acht Prozent. Die Liste lässt sich beliebig fortführen. In fast allen Teilen Deutschlands sind die Schulklassen bunt, mit unterschiedlicher Verteilung, NRW ist anders als Mecklenburg-Vorpommern. Geht man jedoch in Lehrerzimmer, dann sieht die Realität ganz anders aus, auch da brauchen wir mehr Vielfalt.

Karamba Diaby, geboren 1961 in Marsassoum, Senegal, ist promovierter Chemiker und Geoökologe. Seit 2013 sitzt er für die SPD im Deutschen Bundestag. Er ist Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Seit September 2018 ist er der Integrationsbeauftragte seiner Fraktion. Diaby ist Mitglied im Kuratorium der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Ute Brenner, Historikerin und Redakteurin, ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste. 

 

*SCHWARZE: »Wenn es um Rassismus, unterschiedliche Erfahrungen und Sozialisationen geht, ist der politisch korrekte Begriff Schwarze. In allen anderen Fällen gibt es aber meistens gar keinen Grund, dazu zu sagen, ob eine Person Schwarz oder weiß ist.« (zitiert von www.derbraunemob. info). Farbige/farbig ist ein kolonialistischer Begriff und negativ konnotiert. Alternativen sind die Selbstbezeichnungen People of Color (PoC, Singular: Person of Color), Black and People of Color (BPoC) oder Black and Indigenous People of Color (BIPoC).

*BLACK-LIVES-MATTER-BEWEGUNG: BLM, so die gängige Abkürzung, ist eine Graswurzelbewegung, die am 13. Juli 2013 geboren wurde. Als der Nachbarschaftswachmann George Zimmerman in Florida des Mordes an dem afroamerikanischen Highschool-Schüler Trayvon Martin freigesprochen wurde, schrieb die Aktivistin Alicia Garza auf Facebook, sie wolle ihren schwarzen Freunden versichern, dass »unsere Leben etwas bedeuten«. Zusammen mit Patrisse Khan-Cullors und Opal Tometi gründete sie die Organisation mit dem Hashtag #blacklivesmatter. Seitdem hat sich die Bewegung international entwickelt und setzt sich gegen Gewalt gegen Schwarze und People of Color ein. Black Lives Matter organisiert regelmäßig Proteste gegen die Tötung Schwarzer durch Polizeibeamte und zu breiteren Problemen wie Racial Profiling. 

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