Ich will alles tun, damit die Erinnerung an die Shoah in der Ukraine wachgehalten wird

Interview mit Dr. Boris Zabarko über seine Flucht, historische Vergleiche und Antisemitismus

© Boris Zabarko/privat

Boris Zabarko bei einer Führung am Gedenkort für die in der Schlucht von Babyn Jar ermordeten Jüdinnen und Juden. Hier wurden auch weitere NS-Verfolgte, darunter Sinti *zze und Rom*nja, Kriegsgefangene und Menschen mit Behinderung, erschossen.

Ein Schreibtisch, ein kleines Bücherregal, ein Esstisch: Das geräumige Wohnzimmer in der Bleibe von Boris Zabarko in Stuttgart Bad Cannstatt ist spärlich eingerichtet. Für den renommierten Holocaustforscher aus der Ukraine ist es seit seiner Flucht aus Kyjiw Wohn- und Arbeitsort. Er öffnet uns mit einem Lächeln die Tür, grüßt freundlich. »Seine« ehemalige ASF-Freiwillige Amelie Bier nimmt er herzlich in den Arm. Er bietet Kekse, Tee und Kaffee an.

Noch bevor wir mit dem Gespräch beginnen, geht er mit uns zu seinem Bücherregal. Es stehen nur eine Handvoll Bücher hier, auf deren Buchrücken der Name Boris Zabarko in verschiedenen Sprachen steht: ukrainische beziehungsweise russische Ausgaben seiner Werke, zwei deutsche Übersetzungen, drei englische. Zabarko hat über die Geschichte der Shoah in der Ukraine geforscht.

Unzählige Berichte von Überlebenden der Shoah hat er in den Werken »Nur wir haben überlebt« und »Leben und Tod in der Epoche des Holocaust in der Ukraine« festgehalten. Er streicht vorsichtig über die Ausgabe des Buches.

Obwohl der 86-Jährige die zehnstündige Fahrt von Kyjiw nach Lwiw im überfüllten Zug stehend zurücklegen musste, war das für ihn nicht das Schlimmste. »Ich kann noch immer nicht glauben, dass ich meine Heimat verlassen musste. Das tut weh«, sagte der Holocaust-Überlebende nach seiner Ankunft in Budapest. Um weiter nach Deutschland zu kommen, musste Zabarko einige Tage in der ungarischen Hauptstadt überbrücken.

Mehrmals am Tag telefoniert Boris Zabarko mit seinen Schicksalsgefährt*innen in der Ukraine und erkundigt sich nach den neuesten Entwicklungen. Ständigen Kontakt hält er außerdem zu Mitarbeitenden der Ukrainischen Vereinigung Holocaust-Überlebender und koordiniert die Verteilung von finanziellen Nothilfen des Maximilian-Kolbe-Werks an die Überlebenden vor Ort.

Bücher habe er dankenswerterweise von Freund*innen hier in Deutschland erhalten, berichtet er. Alle Manuskripte, alle seine Bücher hätten dagegen in Kyjiw bleiben müssen. Sie stehen dort und warten auf die Rückkehr des Autors. Er seufzt. Dann greift er eine Mappe aus dem Regal mit deutschen Zeitungsberichten.

Zabarko ist nicht nur einer der bekanntesten Historiker*innen aus der Ukraine, sondern er ist selbst Überlebender des Ghettos Scharhorod im Westen der Ukraine. Der 87-Jährige fungiert seit 2004 als Präsident der Ukrainischen Vereinigung jüdischer ehemaliger Ghetto- und KZ-Häftlinge. Mit ASF führte er ab 2006 Erinnerungsprojekte durch und ist seit 2008 Projektpartner in der Freiwilligenarbeit.

 

Amelie Bier und Hans-Ulrich Probst: Herr Zabarko, Sie sind vor wenigen Monaten nach Stuttgart gekommen. Wie gelang Ihnen die Flucht aus Kyjiw?

Boris Zabarko: Ich wollte eigentlich überhaupt nicht fliehen. Das war vor allem dem geschuldet, dass ich bis zuletzt fest davon überzeugt war: Zwischen Russ*innen und Ukrainer*innen kann es keinen Krieg geben. Nie hätte ich mir denken können, dass Putin die Ukraine angreift – bis zum Ausbruch des Krieges. Die ersten sehr schrecklichen Tage des Krieges verbrachten wir in einer Tiefgarage.

Die Arbeit an meinem neuen Buch schritt gerade gut voran, als meine Enkelin zu mir kam, die in Kyjiw im zweiten Jahr studiert: »Opa, wir müssen los.« Der Bombenalarm hat sie unglaublich mitgenommen, sie konnte einfach nicht mehr schlafen. Meine Tochter hat mir gesagt: »Du musst Deine Enkelin retten«. Ich nahm mir eine halbe Stunde, um das Nötigste zu packen, dabei habe ich wichtige Dokumente in der Wohnung zurückgelassen.

Am Bahnhof war ein Auflauf an Menschen, der ganze Bahnsteig war voll. Nach einem ganzen Tag Ungewissheit erhielten wir endlich einen Platz in einem vollgestopften Zug nach Lwiw. Wir haben keinen Sitzplatz bekommen und mussten zehn Stunden im Korridor verbringen. In dieser Nacht hab ich mich daran erinnert, was ich in den Berichten von damals gelesen habe. Während des Zweiten Weltkriegs benutzten Deutsche und Rumänen Viehwaggons, um unzählige Jüdinnen und Juden vom Leben in den Tod zu deportieren – unsere Züge trugen uns, Menschen verschiedener Nationalitäten, vom Tod ins Leben.

Dann gelangten wir nach Lwiw, wieder ewiges Warten bei Freunden, dann wieder auf dem Bahnhof. Ein Weiterkommen aus dem Westen der Ukraine in Richtung Polen, Rumänien, Ungarn war Anfang März nur noch schwer möglich – es hatten sich unendliche Staus gebildet.

Mein guter Freund Michail Galin aus Uschhorod holte uns dann zu sich. In seinem Haus waren ebenfalls schon viele andere Personen untergekommen.

Und wie gelangten Sie dann doch noch über die Grenze?

Nach einigen Tagen in Uschhorod kam aus Deutschland ein Wagen mit humanitärer Hilfe für geflüchtete Kinder. Der Fahrer Frank Müller und seine Tochter Anna schlugen uns vor, auf dem Heimweg über Budapest zu fahren und uns dort hinzubringen. Wir hatten Glück – an der Grenze kamen wir nachts schnell durch. Auf Bitte der stellvertretenden Geschäftsführerin des Maximilian-Kolbe-Werks in Deutschland, Danuta Konieczny, empfing uns der Leiter der Vereinigung der Überlebenden des Budapester Ghettos Dr. György Frisch.

Zwei Tage verbrachten wir in der ungarischen Hauptstadt, besuchten Erinnerungsorte an die ermordeten ungarischen Jüdinnen und Juden und tauschten uns über eine mögliche Zusammenarbeit unserer Organisationen aus.

Aus Uschhorod sind wir nach Deutschland geflohen. Während der komplizierten Flucht haben meine Enkelin Ilona und ich uns mit Covid-19 angesteckt, am 3. März 2022 sind wir in Deutschland angekommen.

Sie sind Präsident der Ukrainischen Vereinigung jüdischer ehemaliger Ghetto- und KZ-Häftlinge. Wie funktioniert Ihre Arbeit von Stuttgart aus?

Ich erhielt freundliche Unterstützung, darüber bin ich sehr dankbar. Das Maximilian-Kolbe-Werk hat den Transport übernommen und mir einen Rechner zur Verfügung gestellt, mit dem ich arbeiten kann. Ich versuche so, den Kontakt mit anderen Überlebenden zu halten, höre wie es ihnen in Deutschland, Polen und anderswo ergeht. Ich weiß von vielen, dass sie dankbar und froh sind, hier zu sein. Viele andere sind aber in der Ukraine geblieben. Wir tauschen uns digital aus. Das geht gut, denn eigentlich ist das nichts Neues: Während der Pandemie haben wir unsere gesamte Arbeit als ukrainischer Dachverband der Überlebenden digitalisiert. Und dann bin ich hier in Stuttgart und anderen Städten und bei verschiedenen Institutionen gefragt: Ministerpräsident Kretschmann hat mich empfangen. Ich habe ihm von unseren Überlebenden berichtet, die dringend Unterstützung brauchten. Er hat erfreulicherweise direkt reagiert. Wie die Presse feststellte: »Ministerpräsident Kretschmann sicherte #Solidarität u. Unterstützung für ukrainische Holocaustüberlebende zu. Ein bewegendes und wichtiges Gespräch!«

Ansonsten gebe ich Zeitungsinterviews und erhalte zahlreiche Einladungen für Gespräche als Zeitzeuge. Und dann braucht es natürlich medizinische und materielle Hilfe für viele Überlebende, die ich versuche zu organisieren.

Wie ergeht es den hochbetagten Überlebenden unter den Kriegsbedingungen?

Heute hat sich die Situation der Holocaust-Überlebenden aufgrund der Pandemie und des von Putin gegen die Ukraine entfesselten Krieges extrem verschlechtert. Der Krieg hat bereits das Leben von einigen von ihnen gefordert. Viele der Menschen, die die Schrecken des Zweiten Weltkrieges, die Ghettos und Konzentrationslager der Nazi-Terrorherrschaft überlebt haben, werden jetzt erneut Opfer eines mörderischen Krieges. Aufgrund ihres hochbetagten Alters, Krankheit, Hilflosigkeit, Einsamkeit, drohender Armut, Pflegebedürftigkeit und daraus resultierender Unfähigkeit, sich frei zu bewegen, können sie nicht an einen sicheren Ort fliehen. Daher ist es jetzt eine zentrale Aufgabe, sie in ihrem Überlebenskampf mit praktischer Hilfe zu unterstützen.

Wie lässt sich die Arbeit Ihres Verbandes in die Geschichte der ukrainischen Jüdinnen und Juden einordnen?

Als Präsident der Ukrainischen Vereinigung jüdischer ehemaliger Ghetto- und KZ-Häftlinge verfolgte ich immer ein klares Anliegen: Ich wollte und will alles tun, damit die Erinnerung an die Shoah in der Ukraine wachgehalten wird, damit Holocaust-Überlebende einen würdigen Platz in unserem Land einnehmen. Ich habe Bücher geschrieben und Artikel, habe auf Konferenzen vorgetragen, habe Gedenkstätten zur Shoah initiiert und Zeitzeugengespräche in der Ukraine, aber auch im deutschsprachigen Raum geführt. Wir sind wenige geworden in den vergangenen Jahren.

Von den 2,7 Millionen Jüdinnen und Juden auf dem heutigen Territorium der Ukraine im Jahr 1939 sind nur noch sehr wenige übriggeblieben. Viele der 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden, die während des Krieges umgebracht wurden, sind auch an der Front im Kampf gegen den Nazismus gefallen. Dann die stalinistische Zeit: Die jüdische Selbstverwaltung wurde stark eingeschränkt und 1952 wurde fast die gesamte jüdische Intelligenz ermordet. Auch danach prägte der Antisemitismus den Alltag: Überlebende wurden in der Sowjetunion diskriminiert. Das hing auch stark mit der Tabuisierung der Shoah in der Sowjetzeit zusammen. Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas hat eigentlich nicht stattgefunden. Erst mit Gorbatschow änderte sich vieles und im Zuge der Liberalisierung konnten nationale Verbände der jüdischen Überlebenden gegründet werden.

Wie hat Ihr Überleben Sie für Ihre Tätigkeit als Historiker geprägt?

Ich bin am Leben geblieben, hatte einfach Glück, dass dies gelang. Viele andere hatten dieses Glück nicht. Früher habe ich viel zu anderen historischen Themen gearbeitet. Erst Mitte der 1990er Jahre wendete ich mich dem Thema Holocaust in der Ukraine zu: Es ist meine Pflicht, die Erinnerung an die, die nicht mehr sind, wachzuhalten.

Wenn ich gefragt werde, warum ich meine eigenen Erinnerungen nicht aufgeschrieben habe, antworte ich, dass es mir unpassend erscheint über meine eigenen Leiden während des Holocaust zu sprechen, da es anderen Überlebenden weitaus schlimmer erging. Vor ihnen fühle ich mich schuldig, ich stehe in der Pflicht der Ermordeten und der Überlebenden, die mehr in ihrem Leben verloren und mehr gelitten haben. Dieser Verpflichtung versuche ich nachzukommen, indem ich die Erinnerung an die NS-Opfer wachhalte.

Im Zuge des russischen Angriffs gegen die Ukraine sind historische Vergleiche an der Tagesordnung. Putin spricht von einem nazistischen Regime in der Ukraine. Präsident Selenskyj sieht einen Genozid wie es ihn seit der Shoah nicht mehr auf dem Gebiet der Ukraine gegeben hat. Wie bewerten Sie solche Vergleiche?

Die ukrainisch-russische Geschichte und die jüdische Geschichte in dieser Region sind sehr komplex. Sie sind voller dunkler Kapitel. Daher laden sie zu Instrumentalisierungen ein. Die Erinnerung an erfahrenes Leid und das Böse wirkt fort. Putins Rede zu Beginn des Krieges spielte genau mit diesen Erinnerungen – das war verfälschend und unverantwortlich. Ich denke daher, dass eine objektive und reflektierte Geschichtsschreibung immer wichtiger wird. Das ist der Auftrag von Wissenschaftler*innen, die in der Lage sind, aus verschiedenen Perspektiven Geschichte zu beschreiben. Das verhält sich auch so für die ukrainische Seite: Es ist verständlich, dass in der Ukraine Shoah-Vergleiche gezogen werden. Die allermeisten Menschen in der Ukraine sind das erste Mal in ihrem Leben unmittelbar mit einem Krieg konfrontiert. Zivilist*innen werden ermordet. Und doch will ich betonen: Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges sind nicht zu überbieten.

Die heutigen schrecklichen Verbrechen des russischen Militärs gegen das ukrainische Volk sollten nicht die Erinnerung an vergangene Verbrechen und den Völkermord an den Jüdinnen und Juden Europas während des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs überschatten, wie es nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war. Die Welt hat damals ihre Lehren nicht berücksichtigt und totalitäre Mächte, der Nationalsozialismus, ein blutiger Krieg und der Holocaust waren die Folge. Die Vergangenheit kehrt zurück. Um dies zu vermeiden, dürfen wir nicht vergessen. Wir sind die Überlebenden dieser schrecklichen Zeit, für uns sind diese Fragen besonders akut.

In Deutschland wird mit Blick auf die Shoah in der Ukraine über den umstrittenen ukrainischen NS-Kollaborateur Stepan Bandera und Organisationen, die sich positiv auf ihn beziehen, diskutiert. Antisemitismus sei, so wird häufig angenommen, in der Ukraine auch heute weit verbreitet. Wie sehen Sie das?

Ich versuche, die geschichtspolitische Diskussion in Deutschland über die Lehren und Erinnerungen des Holocaust, den schwierigen Kampf gegen den sich erhebenden Antisemitismus, gegen das Vergessen und Verdrehen der Ereignisse und historischen Fakten aufmerksam zu verfolgen.

Was diese und andere komplexe und schmerzhafte Probleme in meinem Land wie NS-Kollaborateure oder die Rolle der nationalistischen (Stepan Bandera, OUN-UPA, Waffen-SS-Division Galizien und so weiter) betrifft, werde ich Ihnen nach dem siegreichen Ende des heutigen Krieges gegen Putins Russland antworten. Eines kann ich sicher sagen: Als Historiker stehe ich an der Seite meiner ukrainischen Kolleg*innen wie auch zahlreicher Forscher*innen aus Israel, Deutschland, den USA und vielen anderen Ländern.

Wir, die Holocaust-Überlebenden, erleben den Krieg zum zweiten Mal in unserem Leben – am Anfang und am Ende des Lebens. Und einige von uns kamen aufgrund der verbrecherischen Aggression Russlands gegen die Ukraine nach Deutschland, in das Land, das den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust auslöste, der Millionen unschuldiger Menschen, darunter auch uns, Tod und Leid brachte.

Mein Land weiß die umfassende Hilfe Deutschlands in der jetzigen Situation sehr zu schätzen, insbesondere auch die ukrainischen Streitkräfte. Für die große Aufmerksamkeit, die Sorge um uns und die allseitige Unterstützung empfinden wir außerordentliche Dankbarkeit.

Herr Zabarko, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Gespräch führten Amelie Bier, 2017/2018 Freiwillige in Kyjiw, und Hans-Ulrich Probst, 2008/2009 Freiwilliger in Minsk.

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