Opfer, Mitläufer oder Täter? Moritz Pfeiffer, Autor des Buches „Mein Großvater im Krieg“, ging der NS-Vergangenheit seiner Großeltern auf den Grund. Über das Ergebnis seiner Recherche hätte er gern mit ihnen gesprochen.
Der Großvater im Krieg, Verleihung des Eisernen Kreuzes im
Regiment, 1941
Am Anfang meiner Recherchen stand die Lektüre des Buches „Opa war kein Nazi“ von Harald Welzer. Dort las ich, eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung klammere die eigenen Vorfahren aus dem historischen Kontext der NS-Zeit aus. Einer repräsentativen Meinungsumfrage zufolge sind sich 49 Prozent der Deutschen sicher, in ihrer Familie sei der Nationalsozialismus abgelehnt worden. Innerfamiliäre Zustimmung zu Adolf Hitler räumten gerade einmal sechs Prozent der Befragten ein.Träfe das zu, hätte es zwischen 1933 und 1945 vor NS-Kritiker_innen, vor Widerstandskämpfer_innen nur so wimmeln müssen.
Die eigene Familiengeschichte erforschen
Bei mir löste die Lektüre des Buches den Wunsch aus, es anders zu machen, genauer hinzuschauen. Mit meinen Großeltern hatte ich schon häufig über ihre Jugend im Nationalsozialismus und ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg gesprochen. Nun wollte ich mich dem Thema systematisch nähern. Ich führte ausführliche Interviews mit ihnen, wertete zeitgenössische Quellen von ihnen aus und verschlang Forschungsliteratur.
Meine Liebe zu meinen Großeltern stand nie infrage. Es ging weder darum, sie anzuklagen, noch sie von Mitschuld freizusprechen. Meine Fragen können letztlich in jeder Familie gestellt werden: Wie standen die eigenen Vorfahren zum Nationalsozialismus? Was haben sie bis 1939, was während des Zweiten Weltkriegs erlebt? Wussten sie von NS-Verbrechen? Waren sie selbst beteiligt?
Ganz normale Deutsche
Meine Großeltern waren keine bekannten Persönlichkeiten. Sie hatten keine herausragende Stellung in der NS-Gesellschaft, der NSDAP oder im Militär. Sie waren „normale Deutsche“, die den Nationalsozialismus mittrugen, die begeistert waren, die sich aktivieren ließen, die Opfer brachten und zu Mittätern wurden. Sie waren weder aktiv am Holocaust beteiligt, noch sind sie unschuldig daran. Meine Großeltern wurden Anfang der 1920er Jahre in konservativen, mittelständischen Elternhäusern geboren. Die Eltern meines Großvaters wählten die antisemitische Deutschnationale Volkspartei – ein Steigbügelhalter Adolf Hitlers. In den NSDAP-Jugendorganisationen waren meine Großeltern mit Begeisterung aktiv und gaben die NS-Erziehungsideale an andere Jugendliche weiter.
Geprägt durch Elternhäuser, Zeitgeist und NS-Jugendorganisationen erschien ihnen der nationalsozialistische Gesellschaftsentwurf als positiv, legitim und richtig. Die Ausgrenzung etwa der jüdischen Bevölkerung war für meine Großeltern nach eigener Angabe nicht relevant. Diese Verbrechen nahmen sie nicht wahr, verdrängten sie oder entzogen sich ihnen durch behauptete Ahnungslosigkeit.
Die Legende der sauberen Wehrmacht
Als Berufsoffizier der Wehrmacht erlebte mein Großvater den Zweiten Weltkrieg in Polen, Frankreich und der Sowjetunion. Er war Teil der 6. Armee, die beim Überfall auf die Sowjetunion nicht nur durch ihre Vernichtung im Kessel von Stalingrad bekannt wurde, sondern zunächst durch zahlreiche Kriegsverbrechen auf dem Weg dorthin.
Fragte man ihn etwa nach der Ermordung der Juden, antwortete er reflexhaft, davon nichts gewusst zu haben. Auf wiederholte Nachfrage offenbarte er ein umfassendes Wissen. Mein Großvater räumte ein, keiner Information nachgelaufen zu sein, er habe diese Thematik immer von sich geschoben. Offenbar wusste er genug, um zu wissen, nicht noch mehr wissen zu wollen. Seine Handlungen im Krieg, mit denen er dazu beitrug, dass die Haupttäter ihrer Opfer überhaupt erst habhaft wurden, hat er nie zum Holocaust gezählt.
Meine emotionale Grenze erreichte ich bei der Frage, ob er selbst an Kriegsverbrechen beteiligt war. Als Kompanieführer und Bataillonsadjutant im Krieg gegen die Sowjetunion war er etwa für die Ausführung des „Kommissarbefehls“ zuständig.
Dieser sah vor, Politische Kommissare der Roten Armee bei Gefangennahme sofort auf Befehl eines Offiziers „abzusondern“ und „mit der Waffe zu erledigen“. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, im Militärarchiv zu recherchieren, ob in der Division meines Großvaters dieser Befehl ausgeführt worden ist. Mittlerweile ist belegt: In seiner Einheit gab es solche Erschießungen.
Bei meinem Großvater war jedoch die „Legende der sauberen Wehrmacht“ tief verwurzelt. Er bestand darauf, dass nur die SS Kriegsverbrechen verübt hätten.
Mittäter_innen und Opfer
Keinesfalls waren meine Großeltern nur neutrale Beobachter. Meine Großmutter trat mit 19 Jahren der NSDAP bei und hätte sich auch selbst als überzeugte Nationalsozialistin bezeichnet. Mein Großvater kann als Paradebeispiel interpretiert werden für die Verstrickung nationalkonservativer Kreise und des Militärs in das NS-Regime. Sie waren kleine, unbedeutende Rädchen im Getriebe des Nationalsozialismus. Und doch trugen sie an ihrem jeweiligen Posten dazu bei, dass er bestand. Ohne Zweifel erlitten meine Großeltern großes Leid im Krieg. Mein Großvater verlor bei einer schweren Verwundung sein rechtes Augenlicht. Sie erlebten den alliierten Bombenkrieg, waren durch Kriegsgefangenschaft voneinander getrennt und betrauerten den Tod von Verwandten und Freunden.
Blick nach vorne
Nach dem Krieg richteten meine Großeltern den Blick nach vorne und vermieden eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Fragen ihrer Töchter und Schwiegersöhne beantworteten sie ausweichend. Mit Abstand – im Gespräch mit den Enkel_innen – beschäftigten sie sich wieder intensiver mit ihren Erlebnissen zwischen 1933 und 1945, freilich ohne dabei traumatische Erfahrungen oder selbstreflexive Gedanken äußern zu können. Letztlich war das Ringen mit der eigenen Vita, mit Schuld und Scham ein schmerzhafter innerer, wohl nie abgeschlossener Prozess. Sie richteten sich in einer Version der Erinnerung ein, mit der sie leben konnten. Und mussten es immer wieder verarbeiten, wenn diese Version Risse bekam.
Nationalsozialismus und Holocaust sind Teil unserer Familiengeschichten
Leider sind meine Großeltern gestorben, bevor meine Arbeit fertig war. So konnten wir nicht mehr über die Ergebnisse diskutieren – etwa dass sie sich dem Nationalsozialismus sehr viel mehr verschrieben hatten, als sie es in der Erinnerung wahrhaben wollten. Grundsätzlich bin ich überzeugt: Die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte von 1933 bis 1945 muss nicht im Streit enden. Sie ist unangenehm und intim, aber sie sensibilisiert und entdämonisiert. Wer versteht, wie die eigenen Verwandten aktiviert werden konnten, ist hoffentlich weniger anfällig für Populismus, Hetzparolen und Missbrauch. Eine nicht änderbare Tatsache sollte uns bewusst sein: Nationalsozialismus und Holocaust sind Teil unserer Familiengeschichten. Und eine erkenntnisbringende Frage lautet nicht: Wie hätte ich mich damals verhalten? Die Frage muss lauten: Wie verhalte ich mich heute?
Von: Moritz Pfeiffer, Jahrgang 1982, studierte Geschichte und Romanische Philologie, war tätig im Kreismuseum Wewelsburg in der Abteilung „Erinnerungs- und Gedenkstätte Wewelsburg 1933-1945: Ideologie und Terror der SS.“ Heute lebt und arbeitet er in Tübingen.