Menschen wie wir

Hadar Braun kommt aus Israel und ist Freiwillige im „Haus der Wannseekonferenz“. Nirgendwo sonst wird sie so sehr mit ihrer jüdischen Identität konfrontiert wie an diesem „Ort der Täter“

Seit sechs Monaten gehe ich jeden Tag zu Fuß zum „Haus der Wannseekonferenz“. Auf demselben wunderschönen Weg, den Reinhard Heydrich* in seinem Wagen am 20. Januar 1942* zurücklegte. Jeden Tag gehe ich dieselben Treppen hoch, wie Adolf Eichmann* an jenem Tag. Täglich sitze ich in meinem Büro, das zwischen 1941 und 1945 SS-Angehörigen wahrscheinlich als Schlafzimmer diente. Ich verbringe die meiste Zeit hier in diesem wunderbaren und zugleich unheimlichen Haus, wobei ich fast nie einen Gedanken an die Vergangenheit verschwende.

Und dann, wenn ich durch das Fenster auf den schönen See blicke, geht mir die Angst durch Mark und Bein. Mein Verstand sagt mir, dass ich mich nicht sorgen müsse, die Welt jetzt ein anderer Ort sei, doch mein Körper will nicht hören. Mein Körper weiß, dass ich JÜDIN, Pazifistin, JÜDIN, Feministin, JÜDIN, Ausländerin, queer und JÜDIN bin. Ich bin alles, wogegen die Nazis kämpften. Der jüdische Teil meiner Identität war nie so wichtig wie in diesem Augenblick.

Jeden Tag fahre ich mit einem Zug der Deutschen Bahn, derselben Deutschen Bahn, die Menschen in die Ghettos, Konzentrationslager und in die Stätten des Todes brachte. Jeden Tag laufe ich durch die Straßen Berlins, dieselben Straßen, auf denen Menschen wegen ihrer Rasse, Religion oder Ansichten verfolgt wurden. Und nie denke ich darüber nach. Da es überall gegenwärtig ist. Würde ich darüber nachdenken, könnte ich nicht mehr funktionieren.

Vor meinem Freiwilligendienst arbeitete ich als Guide in der Gedenkstätte Yad Vashem. Es war dort leichter für mich, die Geschichte der Opfer zu erklären, da sich die Frage der Verantwortlichkeit nicht stellte. Wenn ich hingegen Gruppen durch das Haus der Wannseekonferenz führe, ist das komplizierter. Es ist offensichtlich, wer verantwortlich zu machen ist. Doch diese Verantwortlichen führten ein „normales“ Leben mit einer „normalen“ Familie, wie die meisten Besucher der Gedenkstätte auch. Und die Tatsache, dass diese Leute nicht nur Täter waren, macht die pädagogische Arbeit viel komplizierter.

Es ist einfacher für uns, sie für teuflische und nicht menschliche Wesen zu halten. Doch im Haus der Wannseekonferenz muss man sich damit auseinandersetzen, dass es Menschen waren – wie wir. Hätte ich auch so etwas tun können?

Die Angst ist da. Sie kommt und geht, ohne dass ich Kontrolle darüber habe. Sie kommt überraschend, lähmt mich und raubt mir den Schlaf. An meinem Arbeitsplatz muss ich die Angst ignorieren, genau wie in meinem Alltagsleben. Denn die Geschichte ist gegenwärtig. Doch was lerne ich aus daraus?

Vor einigen Tagen sah ich am Alexanderplatz ein Hakenkreuz. Es war das erste Mal, dass die Angst real war und sich auf die Gegenwart bezog. Wenn jemand denkt, so eine Schmierei sei akzeptabel, dann zweifle ich, ob wir etwas gelernt haben. Deshalb muss ich hier sein, um zu lernen, zu lehren und um sicherzustellen, dass es nie wieder passieren wird. Nicht in Deutschland und an keinem anderen Ort in dieser Welt.

Von: Hadar Braun, Jahrgang 1987, aus Jerusalem in Israel, ist aktuelle Freiwillige im „Haus der Wannseekonferenz“.

* Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts,verantwortlich für die Wannsee-Konferenz.
* Am 20. Januar 1942 fand die Wannsee-Konferenz statt, bei der Spitzen aus SS und Reichsministerien sich über die „Gesamtlösung der Judenfrage“ absprachen.
* Adolf Eichmann, SS-Obersturmbannführer, in seinem Referat wurde ab 1941 die „Endlösung der Judenfrage“ organisiert und koordiniert.

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