"Selbst wir können nicht genau sagen, wer dieser Rechte Sektor ist"

Vasilij Vasilevitsch Michajlovskij ist stellvertretender Vorsitzender der Allukrainischen Vereinigung der jüdischen ehemaligen Ghettohäftlinge und Überlebender von nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Er sprach mit uns über die aktuelle Situation in der Ukraine, die Gefahr von rechten Strömungen in der ukrainischen Politik und seine eigene Lebensgeschichte. Die Stimme eines Projektpartners von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste.

Vasilij Michajlovskij (Mitte) in seinem Büro zusammen mit zwei Kolleginnen, Inga Simon, ehemalige ASF-Freiwillige, und Lauritz Neumann, aktueller Ukraine-Freiwilliger.

Vasilij Michajlovskij (Mitte) in seinem Büro zusammen mit zwei Kolleginnen, Inga Simon, ehemalige ASF-Freiwillige, und Lauritz Neumann, aktueller Ukraine-Freiwilliger.

Vasilij Michajlovskij ist Überlebender der NS-Mordaktion von Babyn Jar, bei der am 29./30. September 1941 durch die SS-Einsatzgruppe C in Zusammenarbeit mit der deutschen Wehrmacht mehr als 33.000 Juden getötet wurden. Michajlovskij engagiert sich seit mehreren Jahren als stellvertretender Vorsitzender der Allukrainischen Vereinigung, welche Projektpartner von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste ist. Sie wurde 1991 gegründet und unterstützt Überlebende des NS-Regimes u.a. bei der Beantragung von Kompensationszahlungen sowie der Beschaffung von dafür notwendigen Dokumenten.

Die Hauptakteure des Protestes auf dem Maidan in Kiew sieht Vasilij Michajlovskij aus der Westukraine kommen. Seine Angst vor rechten ukrainischen Gruppierungen war im Interview spürbar. Mehr noch, Michajlovskij zieht eine historische Linie von den Bandera-Einheiten zur Zeit des Zweiten Weltkrieges bis hin zu den heutigen Protesten. Rechtsradikale Bewegungen in der Ukraine berufen sich heute offen auf die historisch äußerst umstrittenen Person Stepan Bandera. Dieser kollaborierte in den 1940er Jahren mit Nazideutschland. Andreas Umland, Politologe und Dozent an der Kiewer Mohyla-Akademie, warnt jedoch vor voreiligen Schlüssen. Er weist darauf hin, „dass es bisher keine historisch objektive Biografie Banderas gibt. Von der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde er als Faschist beschrieben, der mit den Nazis verbündet war. Von nationalistischen Publizisten in der Ukraine wird er heute als Kultfigur beweihräuchert. Die Sicht der ansonsten politisch gemäßigten Bewunderer Banderas auf dem Maidan sei naiv“[1], so Umland.

Das Interview mit Vasilij Michajlovskij zeigt die enge Verknüpfung von historisch-persönlichen Erfahrungen und der eigenen politischen Wahrnehmung. Es gibt darüber hinaus einen Einblick in eine sehr komplexe historisch-politische Gemengelage in der Ukraine, die sich von außen sehr schwer bewerten lässt.


Eingang zum Protestcamp auf dem Maidan, März 2014: Erinnerungen an gestorbene Demonstrant_innen, ein Verbotsschild gegen Alkoholgebrauch sowie rechtsextreme Wandsprühereien der Jugendorganisation der Partei Svoboda.

Eingang zum Protestcamp auf dem Maidan, März 2014: Erinnerungen an gestorbene Demonstrant_innen, ein Verbotsschild gegen Alkoholgebrauch sowie rechtsextreme Wandsprühereien der Jugendorganisation der Partei Svoboda.

Jakob Stürmann: Wie kam es Ihrer Meinung nach zur Revolution in der Ukraine, wo liegen ihre Ursachen?

Vasilij Michajlovskij: Die Revolution reift schon sehr lange angesichts schwieriger Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen. Verschiedenste Hemmnisse bei der Registrierung, hohe Steuerabgaben und vieles mehr führten dazu, dass sie sich gegenüber großen Unternehmen benachteiligt sehen. Der Präsident, sein Umfeld und seine Familie waren an dieser Entwicklung  beteiligt. Sie beuteten den Mittelstand aus und nahmen sich selbst lukrative Unternehmen. Sie nahmen alles an sich und die Leute waren dessen überdrüssig. Allerdings ist eine solche Revolution sehr fragil. Diese Fragilität entsteht durch Nationalismus und Neofaschismus, denn an den Ereignissen nahmen Neonazis teil.[2]

J. S.: Das führt zu meiner zweiten Frage: Welche Gruppen nahmen und welche nehmen bis heute an den Protesten am Maidan teil?

V. M.: Es handelt sich um Gruppierungen aus der Westukraine: aus der Region Lwiw [Lemberg] und Ivano-Frankivsk. Hauptsächlich aus diesen beiden Regionen… Dort gab es während und nach dem Krieg Bandera-Zusammenschlüsse. Sie kooperierten damals mit den deutschen Besatzern und waren sehr brutal. Als die Deutschen in Lwiw einzogen, organisierten diese nationalsozialistischen Gruppen Pogrome – in Lwiw und in anderen Städten der Westukraine. Dabei starben sehr viele Menschen, in Lwiw mehr als 200.000 Juden.

J. S.: Und Sie haben jetzt Angst, dass das bei den Demonstrationen wieder passieren könnte?

V. M.: Verstehen Sie, was damals passiert ist: Nach dem Ende des Krieges gingen die Bandera-Einheiten in die Illegalität. Ihre Kinder erlernten eine negative Haltung gegenüber der Sowjetunion und gegenüber den Kommunisten, sogar gegenüber der friedvollen Bevölkerung. Diese Wut verbarg sich im Inneren dieser Menschen. Als nun dieser passende Moment da war, kam das alles nach oben. Deshalb ist hier kein Schwarzweiß-Denken möglich. Diese Revolution ist deshalb eine solche Revolte,  weil sie diese Gruppen zusammenfasst. Selbst wir können nicht genau sagen, wer zum Beispiel dieser Пра́вий се́ктор [Rechte Sektor] ist. Darin befinden sich eine nationalsozialistische Organisation namens Trysub [Всеукраїнська організація «Тризуб» імені Степана Бандери] und die nationalsozialistische Gruppe UNA-UNSO [Українська народна асамблея - Українська національна солідарна організація]. Das ist der Rechte Sektor, der alle diese nationalsozialistischen Organisationen zusammenführt. Obwohl sie momentan sagen, dass sie nichts gegen Juden haben.

J. S.: Gibt es momentan Gefährdungspotential im Westen der Ukraine in Bezug auf Synagogen und jüdische Organisationen?

V. M.:  Es handelt sich um mehr als Nationalismus. Er richtet sich weniger gegen Juden, mehr gegen Russen. Sie bezeichnen Russen als Moskal [Моска́ль][3] und treten ihnen entgegen. Gegen Russen, weil es einige Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahren gab, in der Zeit des Krieges. Sie wissen, dass durch die nationalsozialistischen Organisationen sehr viele Juden und viele Polen starben. Ungefähr 300.000 Polen wurden im Wolhynien-Gebiet massakriert.

J. S.: Haben Sie als Organisation auch an den Demonstrationen auf dem Maidan teilgenommen?

V. M.: Nein, wir haben nicht teilgenommen, obwohl einige jüdische Vertreter am Maidan aufgetreten sind und den Maidan unterstützt haben. Wir hielten an der Neutralität fest.

J. S.: Gab es dabei Situationen für Sie, die gefährlich waren?

V. M.: In den ersten Tagen der Proteste wurden neben einer Synagoge zwei religiöse Juden zusammengeschlagen. Hier in Kiew, auf dem Podol [Region im Zentrum Kiews], neben der zentralen Synagoge wurden sie überfallen. Es gab eine Erklärung des Botschafters des Staates Israel und eine Erklärung unseres Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, die sich dagegen aussprachen. Weitere solche Ereignisse gab es nicht. Ich habe ja bereits gesagt, dass sie vermehrt gegenüber Russen auftreten. Die jüdische Bevölkerung steht hier nun an zweiter Stelle.

J. S.: Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Ukraine?

V. M.: Für die Zukunft wünschen wir uns, dass unser Land modern und demokratisch wird. Das die Menschen hier normal leben können wie in Europa. Doch der Weg dorthin ist steinig. Es wird gesagt, dass wir der Europäischen Union beitreten müssen. Ja, richtig. Aber was passiert, wenn wir in die Europäische Union eintreten? Nichts wird passieren. Warum? Weil in der Ukraine europäische Standards nicht gegeben sind. Erst wenn wir hier ein Leben entwickeln, wie es in Europa herrscht, können wir  geregelt mit anderen Ländern in die Europäische Union aufgenommen werden. Wenn wir die Korruption beseitigen, dann können wir nach Europa. Aber momentan ängstigt sich Europa vor uns, weil es bei uns eine gewaltige Korruption gibt.

J. S.: Herzlichen Dank für das Interview.

Das hier abgedruckte Interview ist ein Ausschnitt eines längeren Interviews, welches am 12.03.2014 in Kiew auf russischer Sprache durchgeführt wurde.




 

[1] Zitiert nach Emmanuel Dreyfus: Stramm national in der Ukraine, in: Le Monde diplomatique. Deutsche Ausgabe, März 2014, S. 6.

[2] Die hier benutzte Redewendung von V. M. wurde frei übersetzt. Im Original heißt es: такой революции это как в бочке мёда, можно испортить её дёгтем. Вот и таким дёгтем является национализм, неофашизм, потому что в этих событиях участвовали неонацисты. [In so einer Revolution ist es wie mit einem Fass Honig, man kann es mit Teer zerstören. Und in diesem Teer befindet sich Nationalismus und Neofaschismus, denn an diesen Ereignissen beteiligten sich Neonazis.]

Dies ist eine Abwandlung der russischen Redewendung Ложкой дегтя бочку меда не испортишь. [Wenn du viel von etwas Gutem hast, kann ein bisschen Schlechtes es nicht zerstören.] Die inhaltliche Bedeutung der Redewendung wurde von V. M. umgedreht, um die Fragilität der Revolution zu betonen.

 

[3] Moskal ist in diesem Zusammenhang als eine verunglimpfende Bezeichnung für die russische Bevölkerung gemeint. Das Wort wird seit dem Zerfall der Sowjetunion vermehrt in mittel-osteuropäischen Ländern benutzt und dient auch als Abgrenzung gegenüber der russischen Bevölkerung.

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