Über die Grenzen und Folgen von Widerstand im Nationalsozialismus. Ein Beitrag von Eike Stegen
Einer traut sich. Verschränkte Arme statt "Führergruß". Auch eine Form des Widerstandes in Hamburg, 1936
Hamburg-Hafen, 13. Juni 1936, eine jubelende Menschenmenge, das Segelschiff „Horst Wessel“ läuft vom Stapel, Adolf Hitler ist auch da. In diesem Moment entsteht ein Foto. Die Werftarbeiter und andere Zuschauer, sie alle heben ihren rechten Arm zum Hitlergruß. Doch in der enthusiastischen Menge fällt ein einzelner Mann auf. Der Kopf aufrecht, die Augen verkniffen, sein Gesicht strahlt Missmut aus. Doch es sind seine Arme, die ihn besonders machen: Er hält sie verschränkt vor der Brust. Ein Standhafter? Ein Antifaschist? Wie machte er das, sich dem Sog der Masse zu entziehen? Die gereckten Arme der anderen bilden den Strom, in dem der Mann hätte mitschwimmen können, doch er steht da wie ein Fels.
Die Tochter von August Landmesser meint auf dem Foto ihren Vater zu erkennen. Seine Frau war eine Jüdin, zusammen hatten sie zwei Töchter. Es liegt nahe, dass er die NS-Judenpolitik und damit einen zentralen Punkt nationalsozialistischer Politik ablehnte.
Nach 1945 gab es viele Geschichten von Hitlergruß-Verweigerungen. Es war einfach, sich damit von den NS-Parteigenossen abzugrenzen: „Diesen Quatsch haben wir nicht mitgemacht!“ Tatsächlich wird es viele gegeben haben, die sich diesem Ritual bewusst entzogen. Eine Diktatur brachte der verweigerte Gruß jedoch nicht zu Fall.
Dazu braucht es mehr: der geheimen Absprache mit Gleichgesinnten, der Verabredung zur Tat, um eine Diktatur zu stürzen und eine neue Ordnung an ihre Stelle zu setzen. Nicht nur in Bezug auf den Nationalsozialismus ist dies für die Definition des Widerstands in der Geschichts- oder Politikwissenschaft entscheidend: die Erkenntnis, dass die herrschende Ordnung unrecht ist und dass eine rechtmäßige Ordnung sie ersetzen muss. Oder dass zu einer rechtmäßigen Ordnung zurückkehrt werden muss.
Widerstand ist sogar geboten, wenn der Tyrann die Ordnung so verändert, dass von ihr Schaden ausgeht. Die Legitimität des Tyrannenmords wurde schon in antiken Schriften begründet. Das Grundgesetz fordert uns in Artikel 20 ausdrücklich dazu auf, Widerstand zu leisten, wenn es jemand unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen – wie das funktioniert und wann genau der Zeitpunkt dazu ist, ist allerdings auch in den Grundgesetz-Kommentaren nicht klar. Klar ist aber: Hitlergruß-Verweigerer stellten die Diktatur nicht unbedingt in Frage. Sie unternahmen womöglich keine weitere Anstrengung, die Diktatur zu Fall zu bringen, indem sie Flugblätter verteilten, wie die Mitglieder der Weißen Rose oder sich zu politischen Gesprächen einfanden, wie der Kreisauer Kreis. Beide Gruppen unternahmen, unter Lebensgefahr, Anstrengungen zur Überwindung der Tyrannei.
Widerstand ist Handlung
Klar ist aber: Hitlergruß-Verweigerer stellten die Diktatur nicht unbedingt in Frage. Sie unternahmen womöglich keine weitere Anstrengung, die Diktatur zu Fall zu bringen, indem sie Flugblätter verteilten, wie die Mitglieder der Weißen Rose oder sich zu politischen Gesprächen einfanden, wie der Kreisauer Kreis. Beide Gruppen unternahmen, unter Lebensgefahr, Anstrengungen zur Überwindung der Tyrannei.
Wenn der Widerstandsbegriff für die wissenschaftliche Debatte etwas taugen soll, so muss er eng definiert werden. Das fordert Wolfgang Benz, der ehemalige Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung. Beim Widerstand komme es nicht nur auf die Haltung, sondern aufs Handeln an, „das auf grundsätzlicher Ablehnung des Nationalsozialismus beruhte, das aus ethischen, politischen, religiösen, sozialen oder individuellen Motiven darauf abzielte, zum Ende des Regimes beizutragen“.
Würde der Widerstandsbegriff zu weit gefasst, so Benz, könnte leicht jedes nicht regimekonforme Verhalten zu einer Widerstandstat geadelt werden: „dass somit jeder, der dem NS-Regime nicht ständig Beifall spendete, schon Widerstand geleistet hätte“. Der Historiker Detlev Peukert sah das ganz anders und lenkte den Blick auf die vielen Formen und fließenden Übergänge unangepassten Verhaltens: beginnend im Privaten, mit partieller Kritik am System, sich graduell weitend in den öffentlichen Raum mit schließlich genereller Kritik am System.
Der kleine Widerstand
Denn viele mutige, die NS-Verbrechenspolitik durchkreuzende Handlungen fanden wenig Beachtung da sie, entgegen dem Widerstand des 20. Juli 1944, nicht auf einen Regimewechsel abzielten. Zum Beispiel machten nonkonforme Jugendliche („Piraten“) der HJ-Streife in manchen Ruhrgebietsstädten solche Angst, dass sie bestimmte Gegenden nicht mehr patrouillierten. Oder: Ein Charlottenburger Hausmeister, Otto Jogmin, nahm jüdische Mieter_innen auf und meldete sie als „arische“ Mieter_innen an.
Der Hausmeister und die Jugendlichen hatten keinen Plan von einer Zeit nach Hitler. Sie fanden sich nicht konspirativ zusammen. Doch sie waren antinazistischer Widerstand im besten Sinne. In Berlin, so erzählt die Ausstellung im Jüdischen Museum, konnten 10.000 Jüdinnen und Juden sich verstecken. Nicht, weil am 20. Juli 1944 eine Bombe gezündet wurde, sondern weil es unter anderem Menschen wie Otto Jogmin gab.
„Es gab ja gar keine Entscheidung“, sagte er, „es gab ja überhaupt gar nichts – was, wo ich fragen konnte, ob das Recht ist oder Unrecht, das gab’s ja nicht, nicht wahr. Ich war der einzige, entweder ich tat es oder ich tat es nicht und da ich [...] so mitleidig war, nicht wahr, da konnte ich einfach nicht anders, ging nicht, ging nichts anderes. Ich hab auch gar nicht überlegt, also überhaupt nicht, denn wenn ich ehrlich überlegt hätte, hätte ich vieles vielleicht überhaupt gar nicht gemacht.“
Wenn Otto Jogmin also gar nicht nachdachte, ja sogar davon ausgeht, dass er, hätte er nachgedacht, nicht gehandelt hätte. Wenn er Recht und Unrecht nach eigenem Bekunden gar nicht benennen konnte, sondern nach Gefühl handelte, dann ist er nach der engen Definition des Widerstandsbegriffs kein Widerständler.
Wer war Widerständler und wer nicht?
Diese Debatte war keine akademische, sondern eine mit der nach 1945 Politik gemacht wurde. Das lässt sich gut an dem Beispiel von Hedwig Porschütz festmachen, die als Stenotypistin beim Bürstenfabrikant Otto Weidt arbeitete. Jenem Fabrikanten, der in seiner Blindenwerkstatt Juden und Jüdinnen vor der Deportation in Konzentrationslager schützte.
Hedwig Porschütz gehörte zum Unterstützerkreis von Weidt und rettete Leben, indem sie Lebensmittelmarken fälschte, Sachen auf dem Schwarzmarkt organisierte, in ihrer Wohnung Untergetauchte aufnahm und Ausweispapiere für Tarnidentitäten weitergab, auch an Inge Deutschkron. Sie wurde im September 1944 verhaftet, das ganze Ausmaß ihrer Aktionen jedoch nicht entdeckt, so dass sie wegen „Kriegswirtschaftsverbrechen“ zu einer Haftstrafe von anderthalb Jahren verurteilt wurde. Verarmt bemühte sie sich 1956 um eine Anerkennung als politisch Verfolgte. 1958 bat sie um eine Beihilfe aus dem Fond „Unbesungene Helden“. Beide Gesuche wurden mit folgender Begründung abgelehnt:
„Deshalb ist auch der Verkehr mit jüdischen Menschen, der Abschluss von Geschäften mit ihnen oder in ihrem Interesse wie auch die ihnen gewährte persönliche Hilfeleistung und Beratung, sei es im Rahmen des Berufs, sei es aufgrund persönlicher Freundschaft, kein Widerstand gegen den Nationalsozialismus, da solche Taten nicht geeignet sind, ein Regime zu unterhöhlen.“
Zur selben Zeit sprach Fritz Bauer, hessischer Generalstaatsanwalt und wegen seiner engagierten Verfolgung von NS-Verbrechen bekannt, eine ganz andere Sprache. Seinen Widerstandsbegriff koppelte er an die Menschenrechte. Widerstand sei „im Grunde ein Kampf für die Menschenrechte“, schrieb er 1962, Widerstand meine die „Verwirklichung eigener oder fremder Menschenrechte“
.Sühnezeichen-Gründer Lothar Kreyssig hat das Wirken Bauers aufmerksam verfolgt. „Wer von uns Überlebenden das nicht gewollt hat, hat nicht genug getan, es zu verhindern“: So geht Kreyssig im ASF-Gründungsaufruf einerseits hart mit dem Widerstand, auch seinem eigenen, ins Gericht. Andererseits ruft er uns zum Widerstand gegen Selbstrechtfertigung, Bitterkeit und Hass auf, mithilfe einer Kraft, die er Sühnezeichen nennt. Bauers Aufruf zum Widerstand als ständigem Einsatz für die Menschenrechte, eigene und fremde, der sich immer neu bewähren muss, ist davon nicht weit entfernt.
Eike Stegen, Jahrgang 1973, Historiker und ASF-Referent für die Auswahl- und Vorbereitungsseminare sowie die Länderarbeit Niederlande und Frankreich.