Vor einem Jahr, als die politische Situation in Belarus im Fokus der weltweiten Aufmerksamkeit stand, war im Zusammenhang mit den belarusischen Protesten vom »weiblichen Gesicht der Revolution« die Rede. In internationalen Medien wurden die Ereignisse in beeindruckenden Bildern und lebhaften Reportagen dokumentiert. Dies lag größtenteils an einer Besonderheit des Wahlkampfes in Belarus, bei dem drei Frauen auf die politische Bühne traten und einfache, klare Forderungen erhoben, vor allem nach fairen Wahlen. Mit den vereinten Kräften dreier Wahlkampfteams gelang es ihnen, die Mehrheit der Bürger*innen um sich zu versammeln. Später wurde auch der Einsatz vieler anderer Belarusinnen sichtbar, die sich im Frühjahr 2020 am Wahlkampf beteiligten, die sich auch nach den gestohlenen Wahlen weiter engagierten und die bis heute ihren Kampf gegen das Regime fortführen und dabei ihr Leben, ihre Gesundheit und das Wohl ihrer Familie aufs Spiel setzen. Wer sind diese Frauen? Welche Rolle spielen sie in der anhaltenden Protestbewegung? Welche Bilder, Aktivitäten und Widerstandsformen stehen hinter der Idee vom weiblichen Gesicht der Revolution? Zunächst war es das Porträt von Eva (Ева), ein Gemälde des berühmten französischen Expressionisten belarusisch-jüdischer Abstammung Chaim Soutine. Nachdem Wiktar Babaryka, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Belgazprombank und Herausforderer von Präsident Aleksandr Lukaschenko bei der Wahl, aufgrund erfundener Anschuldigungen in Haft gekommen war, wurde auch die Kunstsammlung der Bank beschlagnahmt und ihre öffentliche Ausstellung untersagt. Die stille, aber unnachgiebige Eva wurde zum Symbol der Massenproteste und der Solidarität unter den Belarus*innen. So bekam der friedliche »Massenaufstand« bald einen neuen Namen – »Evalution« (#евалюция). Mit der Zeit erhielt dieses Wort zusätzliche Konnotationen und steht auch für die Ausdauer der friedlichen Protestierenden und für die stetigen evolutionären Veränderungen der belarusischen Gesellschaft auf dem Weg zur Demokratie.
In den 27 Jahren, in denen Lukaschenko an der Macht ist, wurden Frauen systematisch von politischen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Zu Beginn des Wahlkampfes im Mai 2020 erklärte Lukaschenko öffentlich, dass die Verfassung von Belarus dem Präsidenten weitreichende Befugnisse verleihe und dass dieses Amt »nicht für Frauen geeignet ist«. »Die Armen«, wie er sagte, »würden unter der Last der Verpflichtungen des Präsidentenamtes schlichtweg zusammenbrechen.« Diese Aussage sorgte für einen Sturm der Entrüstung in der Bevölkerung. Zum einen hatte sich der amtierende Präsident damit als Verfassungshüter selbst diskreditiert, denn seit den Sowjetzeiten sichert die Verfassung – jedenfalls formell – Frauen und Männern gleiche Rechte zu. Und zum anderen handelte es sich um eine offenkundig sexistische und diskriminierende Aussage gegen einen großen Teil der Wahlberechtigten, also derjenigen, die er bis zum Sommer 2020 zu seinen treuesten Wähler*innen zählte. Im Laufe des Wahlkampfes 2020 forderten die Belarusinnen jedoch ihr Recht ein, aktiv an den politischen Veränderungen teilzuhaben.
Das Gesicht von Eva war das erste weibliche Gesicht, das Belarus*innen auf der ganzen Welt in ihrem Kampf gegen das auf Lukaschenkos Person fixierte autoritäre Regime versammelte. Die wahre Evalution fing jedoch Mitte Juli an, in dem historischen Moment, als echte Frauen auf die politische Bühne traten. Das waren Swetlana Tichanowskaja, die für ihren Mann bei den Wahlen antrat, der aufgrund erfundener Anschuldigungen inhaftiert worden war; Maria Kolesnikowa, Musikerin und Kunstmanagerin, die die Präsidentschaftskampagne von Wiktar Babaryka übernahm, nachdem dieser verhaftet worden war, und Veronika Zepkalo, ITManagerin und Ehefrau des von der Wahl ausgeschlossenen Kandidaten Waleri Zepkalo. Diese drei Teams schlossen sich zusammen, mit Swetlana Tichanowskaja als offizieller Kandidatin. Lukaschenko tappte in die Falle, die er selbst gestellt hatte. Nun sah er sich starken Frauen gegenüber, die nicht im Schatten der männlichen Kandidaten blieben, sondern um die sich Menschen mit gemeinsamen Zielen vereinten.
Die belarusische Bevölkerung unterstützte Swetlana Tichanowskaja während des Wahlkampfes in einem noch nie da gewesenen Ausmaß. Wie schon in der Vergangenheit begann Lukaschenko am Tag nach dieser Wahl damit, das politische Feld von den Herausforder*innen »zu befreien«. Swetlana Tichanowskaja wurde gewaltsam aus dem Land deportiert, führte ihren Kampf jedoch als nationale Oppositionsführerin fort und vertritt die Stimme der Belarus*innen auf der internationalen politischen Bühne.
In verschiedenen belarusischen Städten fanden seit dem 12. August und bis zum Spätherbst 2020 von Frauen initiierte Solidaritätsbekundungen, Menschenketten und Märsche statt. In diesen drei Monaten wurden die Aktionen der Frauen nicht nur an Samstagen abgehalten, sondern jeden Tag und überall. Als Sicherheitskräfte anfingen, Frauen bei Demonstrationen unter Anwendung von Gewalt zu verhaften, verwandelten sich die Märsche in »Demarches« – das heißt, Frauen gingen organisiert, aber zerstreut an öffentlichen Orten spazieren, häufig nahm das die Form eines Flashmobs an. Diese »Demarches« finden bis heute statt. Seitdem sind noch mehr Frauen zum Symbol für die belarusische Protestbewegung geworden, sowohl im In22 Thema als auch im Ausland, in der Diaspora, zu der jetzt auch neue politische Geflüchtete gehören. Gleichzeitig wird Themen wie feministischer Politik und Genderfragen immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit in den Medien und in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zuteil.
Im Zusammenhang mit der »Feminisierung« – im weitesten Sinne – des belarusischen Widerstandes werden viele Aspekte intensiv diskutiert. Ich möchte die drei wichtigsten hier hervorheben: Zum einen, wie hat die massive politische Beteiligung der Frauen die Entwicklung der belarusischen #evalution beeinflusst? Zum anderen, was sind genderspezifische Methoden des politischen Drucks, die das Regime gegen politisch aktive Frauen einsetzt? Und zuletzt, welche Formen des Widerstandes und der Solidarität spiegeln am besten die Erfahrung der Empathie, Schwesterlichkeit und Fürsorge wider? Im Rahmen dieses Artikels habe ich nicht die Möglichkeit, diese drei Aspekte im Detail zu betrachten, daher beschränke ich mich auf einige kurze Kommentare.
Von Anfang an entwickelten und positionierten sich die Proteste in Belarus als eine friedliche Bewegung, die auf der Einhaltung der durch die Verfassung garantierten gesetzlichen Normen fußte – wobei das Konzept der »Rechtmäßigkeit« an sich, wie oben erwähnt, durch die Behörden selbst erheblichen Schaden erfuhr. Die Belarus*innen waren überzeugt, dass der Aufbau des neuen Belarus auf anderen Konzepten und politischen Prinzipien gründen muss und sich die für viele postsowjetische Regime charakteristischen Methoden der Machtergreifung und des Machterhalts nicht wiederholen dürfen. Gewalt führt nur zu mehr Gewalt.
Diese Ansicht spiegelt die historische Erfahrung von Frauen wider, die den Krieg und den bewaffneten Widerstand schon immer als Gewalt und Mord verurteilt haben. Sie entspricht aber auch der Weltsicht einer neuen Generation von Belarus*innen, die sich mit einer zivilisierten Welt identifizieren, in der es keinen Platz für jegliche Form von Gewalt gibt – einschließlich der Todesstrafe als staatlich verordneter Gewalt.
Aktive Frauen waren in Belarus schon lange vor 2020 genderspezifischen Formen politischen Drucks seitens des Regimes ausgesetzt, doch im Vergleich zu der heutigen Situation handelte es sich um wenige vertuschte Fälle. Noch vor Kurzem behauptete Lukaschenko, er »kämpfe nicht gegen Frauen«, doch das ist eine zynische Lüge. Im Kampf gegen das Frauentrio im August 2020 erlitt er in seiner Männlichkeit eine Niederlage, und das ist sein persönliches psychisches Trauma, das er seitdem auf verschiedene Weise zu kompensieren sucht. Ich will nur einige der Methoden und Episoden dieses nicht offiziell erklärten Krieges gegen die Aktivistinnen erwähnen:
Die erste Methode ist, Frauen von ihren Kindern und Familien zu trennen, indem sie inhaftiert werden. Viele große Familien haben diese eiskalte Seite der Repressionen kennengelernt. So auch die von Olga Zolotar, einer politischen Aktivistin und Mutter von fünf Kindern, die seit über einem halben Jahr ohne Untersuchung und ohne Verfahren im Gefängnis sitzt, oder von Tatjana Kanewskaja, Mutter von vier Kindern, Wahlkampfvertraute von Swetlana Tichanowskaja und Aktivistin der Bewegung Mütter 328, die zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, einer ihrer Söhne wurde zu drei Jahren Haft verurteilt.
Die zweite Methode besteht darin, Druck über die vom Staat kontrollierten Vormundschaftsbehörden auszuüben: Existierende und legalisierte Verfahren werden benutzt, um Kinder aus benachteiligten Familien herauszuholen und in Sicherheit zu bringen. Natürlich gibt es viele Fälle, in denen die Sorge seitens der staatlichen Jugendschutzbehörden gerechtfertigt ist, aber leider ist diese Praxis in den vergangenen Jahren zunehmend mit der Verfolgung politisch aktiver Frauen in Verbindung gebracht worden. In manchen Fällen kam es so weit, dass »politisch unzuverlässige« Mütter unter Zwang in psychiatrische Kliniken eingewiesen wurden, die ihre Unfähigkeit »bescheinigen« sollten. In manchen Fällen, lange vor 2020, führte diese Praxis dazu, dass Frauen Suizid begingen, weil sie keine Möglichkeit sahen, diese Orte des Freiheitsentzugs zu verlassen oder ihre Familien zu retten. Hätten Swetlana Tichanowskaja und Veronika Zepkalo ihre Kinder nicht im Voraus im Juni/Juli 2020 ins Ausland schicken können, hätte die belarusische Revolution nie stattgefunden, denn das Lukaschenko-Regime hätte politisch aktive Frauen mit den bereits bekannten Instrumenten unter Druck gesetzt und sie mit Drohungen gegen ihre Kinder erpresst.
Zuletzt dürfen wir nicht vergessen und auch nicht verschweigen, dass das Regime Frauen in Haft umbringt und erniedrigt, indem es ihnen anwaltliche Hilfe und verwandtschaftliche Besuche verweigert und ihnen persönliche Hygienegegenstände, warme Kleidung, Decken und Bettwäsche, Spaziergänge, Duschen und erforderliche medizinische Versorgung verwehrt. Gleichzeitig bekommen Verwandte und Menschenrechtsaktivist*innen oft keinerlei Informationen darüber, was mit den Menschen in Haft passiert.
Wenn über das »weibliche« Gesicht der belarusischen Revolution gesprochen wird, sollte man dies nicht mit naturgegebenen und schicksalhaften Geschlechterunterschieden erklären, die Frauen qua Geschlecht Friedlichkeit und Solidarität zuschreiben. Ich lege das Konzept der sozialen Konstruktion zugrunde; dieses Verständnis der Konstruktion von Geschlecht (Gender), Klasse und Nationalität ist auch für die belarusische Revolution essenziell. Weiblich konnotiertes Verhalten wie Fürsorge, Freundschaften, Verantwortung und Empathie ergibt sich aus der Sozialisation und Lebenserfahrung der Frauen, diese Werte sind im Widerstand essenziell und bilden einen Widerpart zu männlich dominierter staatlicher Gewalt.
Dafür gibt es unzählige Beispiele. Diese Praktiken sind in verschiedenen Formen und unter verschiedenen Umständen sichtbar geworden und finden sich in den Haftbedingungen wieder oder in der Unterstützung, die Frauen Inhaftierten, ihren Kindern und Familien sowie politischen Geflüchteten zukommen lassen, die vor dem Regime ins Ausland fliehen mussten. Die Schlangen bei der Registrierung der Kandidat*innen von Mai bis Juni 2020 und an den Wahlurnen am 9. August 2020, allgegenwärtige Menschenketten und Solidaritätsmärsche zwischen August und November 2020, die Stärkung der Nachbarschaftsbeziehungen in den Vierteln, die Bildung professioneller und regionaler Gruppen über Kanäle des Messenger-Diensts Telegram und so weiter – all das führte zur Bildung breiter Netzwerke, die allen Repressionen zum Trotz funktionieren und in denen Frauen häufig eine wichtige, ja eine Schlüsselrolle als Sprecherinnen und Community-Managerinnen spielten. Diese Netzwerke werden durch die Praxis der Fürsorge und die unsichtbare, aber doch sehr wichtige Kommunikationsarbeit ermöglicht, die horizontale Verbindungen aufbaut.
Swetlana Alexijewitsch, die einzige belarusische Literaturnobelpreisträgerin (2015), sagte einmal: »Frauen ist bewusst geworden, dass sie etwas tun konnten und auch sollten, und dann werden sie ihren Kindern sagen: Wir haben alles getan, was wir konnten.« Was sie getan haben, waren gemeinsame Aktionen und auch mutige Schritte Einzelner – erwähnt werden sollten die historischen Entscheidungen von Swetlana Tichanowskaja nach ihrer Deportation, von Maria Kolesnikowa, die ihren Pass an der Grenze zerriss, als belarusische Sicherheitskräfte sie des Landes verweisen wollten, oder die leidenschaftliche politische Rede von Palina Scharenda-Panasiuk vor Gericht.
Maria Kolesnikowa forderte stets dazu auf, »immer weiter an diesem Machtregime zu picken«. Für ihre Zivilcourage wurde sie zu elf Jahren Haft verurteilt, aber ihr Aufruf inspiriert auch weiterhin viele Menschen. Die Belarus*innen kämpfen weiter gegen das autoritäre Regime und tragen den Monolith des totalitären Staates Stück für Stück ab. Sie sind zu einem kontinuierlichen, langen Kampf bereit, der »jeden Tag« ausgefochten werden muss. Und sie werden weitermachen bis zu dem Tag, an dem die letzte Diktatur Europas endlich zusammenbricht, dank der gemeinsamen Anstrengung von Belarus*innen aus der ganzen Welt, unter denen es so viele mutige Frauen gibt.
Almira Ousmanova ist Philosophin, Kulturtheoretikerin, Genderforscherin und Professorin am Fachbereich Sozialwissenschaften der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius, Litauen.