Eine, die Brücken baut

Wegbereiterin der Friedlichen Revolution: Ruth Misselwitz im Porträt

© privat

»Am 9. Oktober 1989 waren wir im Westen«, erinnert sich Ruth Misselwitz. In Leipzig fand jene Montagsdemonstration statt, die für die Friedliche Revolution entscheidend war, weil keiner wusste, ob geschossen wird. Das Land blickte gebannt auf die Messestadt. Ausgerechnet in diesen Tagen hatten Ruth und Hans Misselwitz die Genehmigung zum Geburtstagsbesuch einer 70-jährigen Tante im Westen erhalten. »Aber wir waren gar nicht bei ihr«, bekennt Ruth Misselwitz. Wenige Tage zuvor war die Ost-SPD gegründet worden und Hans Misselwitz hatte den Auftrag bekommen, bei der Reise Verbindungen zur SPD in Westdeutschland zu knüpfen. Doch das war von nur mäßigem Erfolg gekrönt und brachte, wie der Besuch beim SPD-Bundestagsabgeordneten Freimut Duve in Hamburg, schnell Ernüchterung. »Null hat er sich dafür interessiert. Stattdessen hat er uns die ganze Zeit seine neueste technische Errungenschaft vorgeführt: ein Faxgerät.«

Ruth Misselwitz sitzt in ihrem Arbeitsraum in ihrer großzügigen Altbauwohnung in Pankow. Schalk blitzt aus ihren Augen, der rote Haarschopf leuchtet. Von Larmoyanz oder Nostalgie keine Spur. Warum auch? »Mein Leben ist so reich«, sagt die Mutter zweier erwachsener Töchter, die selbst schon Familie haben.

Dazu gehört zweifellos auch die Erfahrung, die sie in der DDR gemacht hat. Die Theologin, die klare Worte liebt und gern lacht, hat auch damals schon Brücken gebaut, ist auf Andersdenkende zugegangen. Das ist bekanntermaßen nicht immer einfach. Hartnäckig muss man sein und für andere auch mal unbequem. Wie auch zum Reichtum im Leben die Umwege gehören. Auch die haben sie geprägt.

Geboren 1952, ist sie im brandenburgischen Kasel-Golzig in einem Pfarrhaus aufgewachsen. Nach der Schulzeit hat sie kurze Zeit als Krankenschwester gearbeitet und dann an der Humboldt-Universität im Ostteil Berlins evangelische Theologie studiert. Ob sie ins Pfarramt wollte, wusste sie nicht. Zumal ihr Mann in Berlin studierte und junge Absolvent*innen erst mal raus aufs Land mussten. »Ich habe damals überlegt, als Katechetin oder Gemeindehelferin anzufangen, um Geld zu verdienen«, sagt sie heute. Doch es kam anders. Ihr Personalchef im Konsistorium hatte ihr zwar klargemacht: »Frau Misselwitz, Sie sind nichts, Sie können nichts, Sie haben nichts.« Dann aber hatte er überraschend eingeräumt, dass der Pankower Superintendent für eine frei gewordene Pfarrstelle eine Theologin sucht.

Am 1. September 1981 trat sie die Stelle an, der Kalte Krieg mit dem atomaren Wettrüsten in Ost und West näherte sich seinem Höhepunkt. Das machte ihr und ihren Freund*innen nicht nur Angst, sondern empörte sie auch. »Schließlich ging es ja auch um unsere Kinder«, sagt sie. Doch was tun? Große Aktionen kamen für sie zunächst nicht infrage. Vielmehr wollte sie »erst einmal vorsichtig ausloten, wie die Gemeinde funktioniert«.

Doch daraus wurde nichts. »Eine Gruppe von kritischen Geistern, die sich seit einiger Zeit als ›Adorno-Kreis‹ in unserem Wohnzimmer traf – unter ihnen Markus Meckel, Freya Klier und Martin Hoffmann –, jubelte auf, weil sie mit der Pfarrerin nun eine Kirche hatte, in der man an die Öffentlichkeit treten könne.« Und so willigte sie knapp vier Wochen nach ihrem Amtsantritt in ein Friedensfest mit Punkbands, Künstlern und Literaten ein. »Wir halten unser Schweigen nicht mehr aus«, war die Botschaft eines Briefes an die Kirchenleitung. Gut 40 Menschen riefen zudem zur Gründung des Pankower Friedenskreises auf, der bald zu einer der bekanntesten kirchlichen Basisgruppen in der DDR werden sollte.

Die Staatsmacht ließ nicht lange auf sich warten. Superintendent Werner Krätschell wurde ins Rathaus zitiert. Und im Friedenskreis saßen plötzlich gut 20 junge Männer mit kurz geschorenen Haaren, die sich größtenteils mit dem Namen »Lutz« vorstellten. Es waren Stasi-Leute, die die Gespräche und die offene Atmosphäre zerschlagen, Angst verbreiten wollten. Gelungen ist ihnen das letztlich nicht. Der Friedenskreis begegnete den »Lutzis«, wie sie sie nannten, mit gewaltfreien Methoden, die sie in ihren Wohnungen einübten. Und so blieb der Kreis, der jüngst sein Engagement nach 40 Jahren beendet hat, ein Ort der Zivilcourage und politischen Bildung.

Das alles war kein Spaziergang. Das gilt nicht zuletzt auch für ihr Engagement bei den Frauen für den Frieden, beim Vernetzungstreffen der Gruppen Frieden konkret, dem Vernetzungstreffen von Basisgruppen im Raum der evangelischen Kirche, sowie als Delegierte bei den Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. »Die Kirche in der DDR hatte die Zeichen der Zeit verstanden«, ist sie überzeugt. Doch die Hoffnung in Ost und West auf eine erneuerte Kirche nach 1989 wurde zerschlagen. Stattdessen habe es die Rekonstruktion der alten West-Kirche gegeben, »die eben nicht die Zeichen der Zeit erkennt«. Mit allen Folgen für heute. Ruth Misselwitz hat das auch oft und öffentlich kritisiert.

Doch was hat ihr in all dieser Zeit der Glauben bedeutet? Sie sei in erster Linie ein gläubiger, kein politischer Mensch, hat sie immer wieder gesagt. »An der Bergpredigt kommt man nicht vorbei. Das ist die Kernbotschaft Jesu.« Die Feindesliebe und Gewaltlosigkeit seien die zentralen Punkte. Auch dass man nicht richten dürfe über den anderen. »Wenn ich das ernst nehme, dann muss ich das umsetzen«, ist die engagierte Pfarrerin überzeugt. »Sonst bin ich keine Christin.«

Und schon ist sie in der Gegenwart: beim vermeintlich bösen Russen und dem guten Westen oder den gefährlichen Islamisten – »alles Feindbilder, die nach den gleichen Mechanismen wie damals funktionieren und damals wie heute friedensgefährdend sind«. Für den 2008 fertiggestellten Bau einer Moschee der Ahmadiyya-Gemeinde hat sie sich unermüdlich eingesetzt, mit dem Imam ist sie ebenso verbunden wie mit dem ehemaligen Direktor des Centrum Judaicum. Wer bei ihrer Verabschiedung als Pfarrerin in Pankow dabei war, konnte sich davon überzeugen.

Mit ihrem Engagement bei Aktion Sühnezeichen Friedensdienste war sie darum genau am richtigen Platz. Als Brückenbauerin zwischen Ost und West wie auch zwischen den Religionen. Verbunden mit der Aktion fühlt sie sich aber auch aus einem anderen Grund: »Wir haben in der DDR im Unterschied zum Westen immer die deutsche Teilung als Folge der Schuld akzeptiert, die Deutschland nach zwei Welt kriegen und dem Holocaust auf sich genommen hat«, sagt sie. Ihr Einsatz für eine friedliche Welt ist darum bis heute ungebrochen. Und als Brückenbauerin – allen Feindbildern und aller Ignoranz zum Trotz – wird sie auch künftig gebraucht.

Bettina Röder, Journalistin, war in der DDR Redakteurin bei der mehrfach zensierten evangelischen Wochenzeitung Die Kirche, heute lebt sie in Berlin als freie Journalistin.

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