Gertrud Prochownik und die Kreyssigs: eine Geschichte von Widerstand und Hilfe. Was die Enkelkinder der Geretteten und Retter verbindet.

Die deutsche Jüdin Gertrud Prochownik wurde durch die Güte und den Mut eines Fremden, des ASF-Gründers Lothar Kreyssig, vor dem Konzentrationslager bewahrt. Seit Generationen sind ihre Familien eng verbunden. Hier erzählen ihre Enkel, die selbst beste Freunde sind, die beeindruckende Geschichte ihrer Großeltern zum ersten Mal.

© Jenny Krausz

Gertrud Prochownik, Foto undatiert.

DIE GESCHICHTE GERTRUDS
Erzählt von ihrer Enkelin Jenny Krausz, 62, einer Lehrerin, die mit ihrem Mann Sean in der Bretagne lebt.

Meine Großmutter Gertrud – oder Omi, wie meine Zwillingsschwester und ich sie nannten – war, bis wir unser Elternhaus wegen des Studiums verließen, ein fester Bestandteil unseres Lebens. Sie wohnte während unserer gesamten Kindheit bei uns und unseren Eltern, und das Bild von ihr, wie sie in ihrem Sessel sitzend in den Garten blickt und den Spiegel liest, hat sich in mein Gedächtnis eingegraben. Sie herzte und drückte uns, sang für uns Gutenachtlieder auf Deutsch und hatte ein geheimes Lager mit schokoladenüberzogenem Marzipan für uns. Sie war herzlich und liebevoll, eher in ihren Gesten als in Worten, da ihr Englisch nicht so gut war – doch sie plauderte sehr gerne über alles Mögliche, mit einer Ausnahme: Sie sprach niemals über ihre Vergangenheit.

Ich wuchs mit dem Wissen auf, dass wir jüdisch waren, und wusste auch von den Gräueln, die man Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkriegs angetan hatte. Ich wusste auch irgendwie, dass meine Großmutter in dieser Zeit schreckliche Dinge erlebt hatte. Niemand setzte sich mit uns hin und erklärte das, aber jede*r in unserer Familie wusste, dass meine Großmutter gezwungen war zu fliehen, um ihr Leben zu retten, und dass sie bei einem deutschen Richter namens Lothar Kreyssig Unterschlupf fand, der sie unter enormem Risiko für sich selbst und seine Familie auf seinem Bauernhof versteckte. Zum Teil wusste ich das, weil die Kreyssigs, solange ich denken kann, enge Freunde unserer Familie waren; ich lernte Lothars Enkelsohn Martin kennen, als ich 15 war, und bis heute ist er einer meiner besten Freunde. Da meine Großmutter jedoch bis zu ihrem Tod 1982 mit mir nie über den Krieg sprach – und ich zu jung und nicht neugierig genug war, um nachzuforschen –, wusste ich nichts von dem ganzen Ausmaß, das sie miterlebt hatte. Erst als meine Mutter vor fünf Jahren starb, haben wir schließlich alles begriffen.

Als meine Schwester und ich ihre Wohnung ausräumten, fanden wir ein Bündel alter Briefe, die sie und Gertrud sich während des Kriegs geschrieben hatten, dazu einige Kopien von Briefen, die Gertrud ihrer Schwester geschickt hatte, und wir entschieden, sie übersetzen zu lassen. Als wir sie lasen, war es, als ob sich eine Tür in die Vergangenheit öffnete; ich war total gerührt und manchmal einfach überwältigt. Zuvor hatten wir keine Anhaltspunkte gehabt, wie sich Gertrud gefühlt hatte, und keine Ahnung von ihren Ängsten, aber durch diese Briefe konnten wir nachvollziehen, was sie durchgemacht hatte.

Gertrud wurde in Berlin geboren und wuchs dort als viertes von sechs Kindern auf. Sie heiratete, bekam eine Tochter, Marianne (meine Mutter), machte eine Ausbildung als Sozialarbeiterin und arbeitete dann für das Büro der jüdischen Arbeitsvermittlung. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, war sie 55 und Witwe. Ihr Ehemann war drei Jahre zuvor an einer Hirnblutung gestorben. Marianne war damals in England. Gertrud hatte sie, beunruhigt durch die sich zuspitzende Lage, ein paar Monate nach den Novemberpogromen 1938 zu Bekannten nach London geschickt, wo sie als Mechanikerin arbeitete. Gertrud hingegen entschied, in Berlin zu bleiben. Sie war fest entschlossen, durch ihre Tätigkeit in der jüdischen Selbstverwaltung anderen Jüdinnen und Juden dabei zu helfen, Deutschland zu verlassen, indem sie für viele von ihnen Arbeitsmöglichkeiten im Ausland fand. Wahrscheinlich hat sie durch ihre Arbeit viele Leben gerettet.

Ich bin so stolz auf Gertrud, dass sie dieses Opfer im Bewusstsein brachte, ihre geliebte Tochter vielleicht nie wiederzusehen. Als Mutter ist für mich der Gedanke, meine Tochter sieben Monate nicht zu sehen, schon kaum erträglich, geschweige denn sieben Jahre – man kann sich kaum vorstellen, wie sie das schaffte. In einem der Briefe, datiert aus dem Jahr 1942, berichtet Gertrud, dass ihre Schwester und ihr Schwager nach Auschwitz gebracht worden waren. »Ich versuchte überall, Hilfe zu bekommen«, schrieb sie an ihre andere Schwester, »aber niemand konnte etwas tun ... Ich denke die ganze Zeit darüber nach, ob ich ihnen ausreichend Veronal (ein Schlafmittel) mitgegeben habe. Ich hoffe, sie nehmen es rechtzeitig.« Wenn ich dies 80 Jahre später lese, erstaunt mich die Geistesgegenwart meiner Großmutter. Sogar in dieser chaotischen Situation hatte sie die Voraussicht, ihre Schwester und deren Mann mit Schlafmitteln zu versorgen, damit diese ihr Leben beenden könnten.

Bald darauf, im April 1943, erhielt Gertrud ihren eigenen Deportationsbefehl von der Gestapo. Sie beschloss, zu versuchen aus Berlin zu fliehen. Ich habe es nie geschafft herauszubekommen, wie sie von Lothar gehört hat, aber er war in den jüdischen Untergrundnetzwerken als Anti-Nazi bekannt und dafür, dass er Menschen half »unterzutauchen«. Er organisierte für Gertrud eine Bleibe auf einem Bauernhof in Päwesin, ungefähr 50 Kilometer westlich von Berlin, wo sie sich durch eine neu angenommene Identität in aller Öffentlichkeit »versteckte« und niemandem verriet, dass sie Jüdin war.

Gertrud floh mit nichts aus Berlin. Um ihre Herkunft zu verbergen, nahm sie den Namen Hildegard Jacobi an. Das Einzige, was sie bei sich trug, war eine Zyankali-Kapsel; bevor die Gestapo sie mitnehmen könnte, würde sie sich entscheiden, ihr Leben selbst zu beenden. Wenn ich mir meine Großmutter in dem Zug vorstelle, eine Frau in mittleren Jahren, allein, quält das meine Seele. Wie einsam und verängstigt muss sie sich gefühlt haben! Ich musste in letzter Zeit öfters an sie denken, da ich in unserem Dorf einer kurdischen Familie helfe, die ebenfalls alles zurückgelassen hat, als sie aus ihrer Heimat floh. Wenn diese Mutter mir erzählt, wie sehr sie ihr altes Leben vermisst, denke ich an Gertrud.

Das Leben auf dem Bauernhof beschreibt Gertrud in ihren Briefen als eine elende Existenz; sie musste täglich 18 Stunden unter brutalen Bedingungen mit zwei Frauen aus fanatischen Nazi-Familien arbeiten, die sie mit Argwohn behandelten; die ganze Zeit hatte sie Angst, dass die Frauen ihre wahre Identität aufdecken und sie an die Gestapo ausliefern würden. »Ich fürchtete mich vor jedem neuen Tag und dachte oft daran, die Kapsel zu schlucken«, schrieb sie.

In ihrer Verzweiflung wandte sie sich noch einmal an Lothar. Er und seine Frau Johanna waren bereit, sie bis zum Ende des Kriegs auf ihrem eigenen Gutshof in der Nähe des Dorfes Hohenferchesar, rund 20 Kilometer weiter westlich, aufzunehmen. Erstaunlicherweise wurde sie nicht versteckt, sondern wohnte und arbeitete dort und war einfach in das Leben der Familie integriert. Sie wurde wirklich wie ein Familienmitglied behandelt, aß mit allen zusammen und verbrachte Zeit mit den vier Kindern. Ihre Briefe beschreiben die große Herzlichkeit, die ihr die Familie entgegenbrachte. Obwohl sie keinen Zugang zu den rationierten Lebensmitteln hatte, aß sie das gleiche Essen wie die Familie, sie teilte alles mit ihr – nach zwei Jahren voller Entbehrungen war sie tief bewegt, wieder menschliche Güte zu erfahren.

Die Gräuel, die während des Zweiten Weltkriegs begangen wurden, veränderten alles für Gertrud. Sie konnte es nicht länger ertragen, sich als Deutsche zu bezeichnen. Die Kreyssigs jedoch haben ihr nicht nur das Leben gerettet, sondern ihr auch dabei geholfen, ihren Glauben an die Menschheit zurückzugewinnen. Nach dem Krieg verließ Gertrud Deutschland für immer. Zuerst ging sie nach London, wo sie wieder mit Marianne zusammentraf, dann siedelte sie nach Australien über, und schließlich kehrte sie nach London zurück, um bei meinen Eltern und uns zu leben. Ihr ganzes Leben stand sie mit Lothar und Johanna in Kontakt, sie führten einen regen Briefwechsel. Gertrud wurde 97 Jahre alt, alt genug, um mitzuerleben, wie die Freundschaft zwischen unseren Familien über Generationen hinweg wuchs und gedieh.

Das erste Mal besuchte ich die Kreyssigs in Frankfurt, als ich ein Teenager war und Deutsch lernte. Martin und ich verstanden uns auf Anhieb. Obwohl er zwei Jahre jünger war als ich und wir die jeweils andere Sprache nicht flüssig beherrschten, gab es sofort eine Verbindung. Das Erste, was ich an ihm bemerkte, als ich ihn kennenlernte, war sein breites Willkommenslächeln. Ich kann mich auch lebhaft an seinen großartigen Sinn für Humor erinnern und dass alles mit ihm zum Abenteuer wurde. Fast 50 Jahre später klingt immer noch Lachen durch unsere Beziehung. Auch unsere Kinder haben sich schon öfters getroffen. Es scheint also, dass diese tiefe Verbindung, die vor 80 Jahren in Nazi-Deutschland begann, weitergeht.

Aber zurück zu unserer ersten Begegnung. Damals dachten wir, unsere Großeltern sind uralt, ihre Vergangenheit ist unwichtig; wir tauschten uns über die Schule und über Musik aus, später über unsere gemeinsame Leidenschaft, die Kunst, sowie über unsere Familien und Kinder. Nach dem Studium wurde ich Fotojournalistin, Martin Filmregisseur und Professor für Film an einer deutschen Universität – wir hatten also vieles gemeinsam. Glücklicherweise haben sich auch unsere jeweiligen Partner immer verstanden, und Martin besuchte uns oft, wenn er wegen seiner Arbeit in London war; wir gingen dann zusammen ins Kino und in Ausstellungen. Erst in den letzten Jahren wurde die gemeinsame Vergangenheit unserer Großeltern mehr zum Gesprächsthema, insbesondere, seit ich 2016 nach dem Tod meiner Mutter die Briefe gefunden hatte.

Im selben Jahr wurden Lothar und Johanna von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet, eine Ehre, die Nichtjüdinnen und -juden zuteilwird, die jüdische Leben retteten. Die Ehrung fand zwei Jahre später in Berlin statt. Beide Familien nahmen daran teil; es war ein sehr aufwühlender Tag für uns alle, und ich wünschte nur, unsere Großeltern hätten uns sehen können.

Bis heute lese ich die wunderbaren Briefe meiner Großmutter immer wieder. Sie bringen sie mir zurück, ich kann fast ihre Stimme hören, wie sie sie liest. Den Brief, den ich am meisten wertschätze, schrieb sie ein paar Tage vor Kriegsende, am 5. Mai 1945, an die Kreyssigs. Ich kann ihn fast auswendig, aber er rührt mich jedes Mal aufs Neue zu Tränen.

»In diesen schweren Tagen, in denen jede Stunde neue Möglichkeiten in sich birgt, und auch uns auf die eine oder andere Weise plötzlich trennen kann, ist es mir tiefstes Bedürfnis, Ihnen, meine sehr verehrten Kreyssigs, ein paar armselige Worte des Dankes zurückzulassen«, schrieb sie. »Sie waren sich dabei völlig bewusst, welches Risiko Sie nicht nur für sich, sondern für Ihre gesamte Familie eingingen, und zögerten doch keinen Augenblick mir Hilfe zu leisten. Ich gehörte sofort zu Ihrem Familienkreis, wie jeder, der unter Ihrem Dache weilt ... So erlebte ich in Ihrem Hause täglich die lebendige Teilnahme offener Herzen, und weiß nun, dass die große, alles umfassende Nächstenliebe nicht im Bombenhagel starb, sondern wieder einer freien Zukunft entgegen lebt.«

Obwohl ich ihn so oft gelesen habe, fühle ich die gleiche Mischung aus Traurigkeit, Dankbarkeit, Hoffnung und schlussendlich Vertrauen, dass es das Gute auf der Welt gibt. Lothar war ein Mann von höchster Integrität und Menschlichkeit. In dieser Beziehung ist sein Enkel aus dem gleichen Holz geschnitzt.

LOTHARS GESCHICHTE
Erzählt von seinem Enkel Martin Kreyssig, Filmregisseur und Universitätsprofessor, der mit seiner Frau Viola in Hamburg lebt.

Als ich Jenny vor fast 50 Jahren kennenlernte, hatte ich keine Ahnung, dass ich mit ihr eine weitere Schwester bekommen würde, denn genau das ist mein Gefühl ihr gegenüber. Obwohl wir in unterschiedlichen Ländern leben, haben wir eine zuverlässige Freundschaft etabliert, von der ich weiß, dass sie bis ins hohe Alter reichen wird. Auch wenn wir beide bisher keinen Zufluchtsort benötigten, so wie Gertrud, bin ich sicher, wenn das bei einem von uns der Fall wäre, der andere würde ihn zur Verfügung stellen.

Die Geschichte unserer beiden Familien hat mich immer beschäftigt. Ich habe meinen Großeltern viele Fragen gestellt und versucht, etwas über ihre Kriegserlebnisse zu erfahren, aber es war nichts aus ihnen herauszubekommen. Schließlich erfuhr ich durch meine Eltern, dass mein Großvater Gertrud und eine weitere jüdische Frau versteckt hatte. Beide wurden von der Gestapo gesucht.

Ich finde es erstaunlich, dass er nicht nur sein eigenes Leben riskierte, sondern auch das seiner jungen Familie. Aber noch erstaunlicher ist, dass dies nicht der einzige Akt des Mutes oder der Menschlichkeit war. 1940 nutzte mein Großvater, der Richter war, seine juristische Ausbildung, um gegen die Aktion T4 , das Euthanasie-Programm der Nazis (durch das rund 200.000 Menschen ermordet wurden), vorzugehen. Er erstattete Anzeige wegen Mordes gegen den Verantwortlichen, Reichsleiter Philipp Bouhler, einen hochrangigen Nazi-Funktionär.

Obwohl diese Anzeige abgewiesen wurde – da Bouhler nur Hitlers Direktiven folgte –, gab mein Großvater nicht auf. Mit der Begründung, dass ein Wort des Führers kein Recht schaffe, verbat er den Anstalten in seinem Amtsbereich, Patient*innen an die Nazis auszuliefern. Es wurden Strafverfahren gegen ihn angestrengt; diese scheiterten aber genauso wie ein späterer Versuch der Gestapo, ihn in ein Konzentrationslager zu deportieren. Seine einzige Bestrafung war die Entlassung aus dem Dienst im Jahr 1942, die als »Versetzung in den Ruhestand« deklariert wurde.

Er war eine einsame, jedoch entschlossene und unbeugsame Stimme innerhalb der Justiz, die wahrscheinlich viele Leben rettete. Im Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1968 wurde mein Großvater als ein »unbekannter, gerechter Richter« bezeichnet. Ich bin ungemein stolz, wenn ich daran denke, wie er sich für diejenigen eingesetzt hat, die das nicht für sich selbst tun konnten, zumal bei seiner Herkunft. Er wurde 1898 in eine nach rechts tendierende bürgerliche Familie in Sachsen geboren und diente im Ersten Weltkrieg, bevor er Jura studierte. Theoretisch hätte er einen perfekten Nazi abgegeben, aber er lehnte alle Bestrebungen ab, ihn für die Partei zu rekrutieren.

Lothar war immer prinzipientreu und gerecht. Nachdem er 1934 der Bekennenden Kirche beigetreten war, stellte er sein Leben ganz in den Dienst Gottes. Ich denke, seine Grundmotivation für alles, was er tat, um Gertrud und so vielen anderen zu helfen, war sein Glauben; dieser gab ihm die Kraft, niemals aufzugeben, egal welche Gefahren damit verbunden waren. Es war auch die die Nazi-Ideologie ablehnende Bekennende Kirche, durch die Lothar in Kontakt mit den Untergrundorganisationen kam, die Juden und anderen verfolgten Gruppen halfen.

Mein Vater Jochen war 15 Jahre alt, als Gertrud auf den Hof der Familie kam, um dort zu leben. Er erzählte mir einmal, dass sie ohne jede Ankündigung oder Dramatik oder Aufregung auftauchte. Er stellte ihre Anwesenheit nicht infrage, geschweige denn, dass er die Gefahr erkannte, die das für seine Familie bedeutete. Für ihn brauchte sie einfach Arbeit und Obdach. Sie aß mit der Familie, schlief im Hause, arbeitete auf den Feldern. Zuerst wurde Gertrud also ein Teil dieser Gemeinschaft – und nach dem Krieg wurde ihre Familie ein Teil der unseren. Der Brief, den sie an meine Großeltern, ein paar Tage bevor sie wegging, schrieb, wurde später gegenüber der sowjetischen Besatzungsmacht als Beweis verwendet, dass Lothar nicht vom Krieg profitiert und immer menschlich gehandelt hatte.

Mein Großvater starb 1986 im Alter von 87 Jahren. Wenn ich an ihn denke, bin ich sehr stolz. Er hatte eine unerschütterliche Moral und Zivilcourage, was ihm die Kraft gab, immer das Richtige zu tun. Er war der Meinung, dass es besser sei, sein Leben zu opfern als seine Integrität – sicherlich wurden manche seiner Werte an die nächsten Generationen weitergegeben. Es gibt ein paar Aspekte, mit denen ich nicht so einverstanden bin: Seine unnachgiebige Entschlossenheit, die Pflicht über alles andere zu stellen, gab ihm eine strenge, unnahbare Präsenz in unserem Leben. Er fand es viel leichter, seine Liebe zu Gott zu zeigen als die zu seiner Familie, und unsere Besuche bei ihm waren immer angespannt.

Dennoch ist er für mich ein beständiges Vorbild, nicht zuletzt wegen seines gemeinnützigen Wirkens. (Später gründete er die Aktion Sühnezeichen, die junge Freiwillige zur Mitarbeit in Projekte der Länder entsendet, die unter den Nazis gelitten haben.) Überall in Deutschland gibt es Orte der Erinnerung an ihn, was ihn sicherlich in Verlegenheit bringen würde.

In mancherlei Hinsicht ist die Geschichte von seinem und Gertruds Leben noch gar nicht zu Ende; ich denke, dass Jenny und ich sie fortsetzen, unter anderen und glücklicherweise friedlichen Umständen. Unsere Eltern waren fest davon überzeugt, dass unsere Familien aufgrund unserer geteilten Vergangenheit zusammengehören. Dem stimme ich mit ganzem Herzen zu. Ich hoffe, dass unsere Familien weiterhin die Geschichte dieser Rettung ehren und an die kommenden Generationen weitergeben. Meinen Kindern habe ich die Geschichte unserer Großeltern immer wieder erzählt, ich weiß, dass sie sie in ihren Herzen und Köpfen tragen.

Besonders als Junge war ich immer dankbar, keine Nazi-Geschichte erzählen zu müssen. Im Gegenteil, ich konnte eine Geschichte von Widerstand und Hilfe erzählen, und von der Rettung Gertrud Prochowniks, der Großmutter meiner guten Freundin Jenny.

Aufgeschrieben von Xenia Taliotis
Erschienen in »The Telegraph«, London, 8. Mai 2021
Übersetzung aus dem Englischen von Giselind Rinn

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