Ein Meilenstein der Bürger*innenrechtsbewegung der Sinti*zze und Rom*nja
© Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
Jakob Bamberger, Ranco Brantner, Hans Braun und Franz Wirbel, vier Überlebende des nationalsozialistischen Völkermordes, protestierten gemeinsam mit weiteren Angehörigen der Sinti im April 1980 mit einem Hungerstreik in der Evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau gegen den institutionellen Rassismus in der bayrischen Polizei.
Der Sinto Jakob Bamberger war 1941 auf der Flucht nach Prag verhaftet worden. 1944 wurde er im Konzentrationslager Dachau von der SS in Meereswasserversuchen für medizinische Experimente missbraucht. Später musste Bamberger in der Flugzeugproduktion Zwangsarbeit leisten. Die Befreiung erlebte er auf einem Häftlingstransport von Buchenwald in das KZ Flossenbürg.
Trotz erheblicher Gefahr für ihre Gesundheit entschieden Jakob Bamberger und seine Mitstreiter sich an Ostern 1980 für den radikalen Akt des Hungerstreiks, um an dem historischen Ort des KZ Dachau auf die Kontinuitäten der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik in der BRD aufmerksam zu machen. Zentrale Forderungen der Hungernden waren die offizielle Anerkennung des NS-Völkermords und die Herausgabe der Polizeiakten der ehemaligen Münchner »Landfahrerzentrale«, die – entgegen der beharrlichen Leugnung des bayrischen Innenministeriums – auf rassistischen Akten aus der Zeit des Nationalsozialismus basierten.
Jahrzehntelang hatten personelle und ideologische Kontinuitäten in Justiz und Polizei zu einer zweiten Verfolgung geführt, indem die Behörden Sint*ezze und Rom*nja systematisch diskriminierten. Sie verwehrten den Überlebenden eine Anerkennung der rassistischen Verfolgung sowie eine persönliche Entschädigung für erlittenes Unrecht. 1956 lehnte der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil ab, Überlebenden eine Entschädigung für ihre Verfolgung vor 1943 zu zahlen, und zwar mit einer Begründung, die nationalsozialistische Stigmatisierungen von Angehörigen der Minderheit als »Kriminelle« reproduzierte. Auf diffamierende Weise wurden Sint*ezze und Rom*nja von den deutschen Behörden auf Grundlage der NS-Akten kriminalisiert. In der deutschen Öffentlichkeit gab es auch nach dem Ende des Nationalsozialismus keinen Platz für die leidvollen Erfahrungen der Verfolgung und des Völkermordes an den Sint*ezze und Rom*nja.
Dagegen protestierten die Betroffenen seit den 1970er-Jahren mit zunehmend öffentlich wahrnehmbarer Stimme. Der Verband Deutscher Sinti, die Vorgängerorganisation des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, veröffentlichte in seinen Recherchen zahlreiche Fälle, in denen NS-Akten nach 1945 für die polizeiliche Verfolgung von Sint*ezze und Rom*nja und die Verweigerung der Entschädigungsansprüche von Überlebenden herangezogen wurden (VDS, Presseerklärung, 25. Februar 1980).
Um der Forderung nach der Herausgabe der besagten Akten und einer Entschädigung der Überlebenden Nachdruck zu verleihen, entschieden sich zwölf Bürger*innenrechtler der Sinti am 4. April 1980, in den Hungerstreik zu treten. Sie nahmen damit ein erhebliches Risiko für ihre körperliche und psychische Gesundheit in Kauf. Unterstützt wurden die Hungernden von Sint*ezze und Rom*nja, die aus dem gesamten Bundesgebiet anreisten. Parallel organisierten Bürger*innen rechtler*innen aus der Minderheit in verschiedenen Städten Solidaritätsveranstaltungen zur Bekräftigung der politischen Ziele des Dachauer Protests.
Durch eine professionelle Kampagnen- und Medienarbeit mit der Unterstützung der Gesellschaft für bedrohte Völker gelang es den Streikenden unter hohem persönlichen Einsatz, den Anliegen der Minderheit erstmals in einer größeren deutschen und auch internationalen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Mehrere Hundert Journalist*innen berichteten über die Aktion. Auch Aktion Sühnezeichen Friedensdienste unterstützte den Protest durch Solidaritätsbekundungen, Pressearbeit und Präsenz mit Freiwilligen in der Evangelischen Versöhnungskirche vor Ort.
Der Rückblick auf die mediale Berichterstattung und die zahlreichen Unterstützer*innenbriefe zeigt uns heute aber auch, wie selbst die Sprache der Wohlwollenden von stereotypen Bildern und diskriminierender Wortwahl geprägt war. Die Filmemacherin und Tochter einer Überlebenden Melanie Spitta, die gemeinsam mit anderen Sint*ezze die Dachauer Hungerstreikenden vor Ort unterstützte, stellte in einem politischen Kommentar zu den Ereignissen dar, wie »gut gemeinte Hilfe« rund um den Hungerstreik auch Abhängigkeiten und Vorurteile reproduziert (Melanie Spitta, Ich wende mich entschieden gegen Bevormundung, Courage, Ausgabe 6, 1981).
Nach zähen Verhandlungen mit dem bayrischen Innenministerium und dem Landtag beendeten die Hungernden am achten Tag, dem 11. April 1980, ihren Streik. Obwohl ihre politischen Forderungen zunächst nur teilweise erfüllt wurden, kann der Hungerstreik aufgrund seiner wegweisenden Wirkung für die Bürger*innenrechtsbewegung der Sint*ezze und Rom*nja als Meilenstein auf dem Weg zur politischen Anerkennung gedeutet werden. Am 17. März 1982 spricht der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eine offizielle Anerkennung des rassistischen Charakters des NS-Völkermordes an den Sint*ezze und Rom*nja aus und betont auch die Verpflichtung der BRD zu einer Entschädigung der Opfer.
Diese Anerkennung war ein wichtiger Erfolg. Für ein Umdenken in Politik und Gesellschaft waren jedoch weitere Protestaktionen der Bürger*innenrechtsbewegung erforderlich, etwa die Besetzung des Tübinger Universitätsarchivs, um die Herausgabe der NS-Akten zu erzwingen, oder die Demonstration mit Überlebenden vor dem Bundeskriminalamt gegen die polizeiliche Sondererfassung. Und der Fall von Racial Profiling in der Berliner Polizeilichen Kriminalstatistik aus dem Jahr 2017 macht deutlich, wie sich die Kontinuitäten behördlicher Diskriminierung von Sint*ezze und Rom*nja bis in unsere Gegenwart ziehen.
Der Dachauer Hungerstreik nahm aufgrund seiner großen Öffentlichkeitswirksamkeit auch eine Vorbildfunktion für spätere Protestaktionen ein. So protestieren 1993 in den KZ-Gedenkstätten Neuengamme und Dachau geflüchtete und von Abschiebung bedrohte Rom*nja gegen die Verschärfung der deutschen Asylpolitik. Die Auswahl des Protestorts war ein Appell an eine besondere deutsche Verantwortung für Angehörige der Minderheit. 2016 wählten protestierende Rom*nja mit dem Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma einen zentralen Erinnerungsort an den Völkermord, um in unmittelbarer Nähe zum Bundestag gegen die Politik der pauschalen Ablehnung von Asylanträgen von Menschen aus sogenannten »sicheren Herkunftsstaaten« zu demonstrieren. Doch konnten diese späteren Protestaktionen nicht an den medialen Erfolg des Dachauer Vorbildes anknüpfen.
Der Dachauer Hungerstreik nimmt heute einen unverrückbaren Platz in der Erinnerungskultur der deutschen Geschichte der Sint*ezze und Rom*nja ein. Beispiellos steht er für einen symbolträchtigen Akt der Selbstermächtigung der Bürger*innen rechts bewegung der Sint*ezze und Rom*nja gegen die herrschenden politischen Machtverhältnisse. Damit stieß der Protest auch eine Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung der Minderheit an: nicht als vermeintlich homogenes Kollektiv, sondern als handelnde Akteur*innen mit individuellen Biografien und gesellschaftlichen Positionierungen.
Sara Spring ist Projektkoordinatorin des ASF-Arbeitsbereichs Geschichte(n) in der Migrationsgesellschaft.