Wider die Zerstörung des Rechts

Kleine Initiativen zur Rettung und Unterstützung von Geflüchteten kämpfen gegen Abschottung, Gewalt und Unrecht

Eine neue Form des zivilen Ungehorsams ist in den letzten Jahren entstanden. Es ist das Engagement von Flüchtlingsaktivist*innen. Sie machen auf Unrecht aufmerksam, fordern geltendes Recht ein. Statt symbolisch gegen Recht zu verstoßen, um Aufmerksamkeit für ihr Anliegen zu erzielen, halten sie sich strikt an geltende Gesetze. Umso schreiender stechen die Rechtsverletzungen hervor, die sich die meisten europäischen Regierungen zuschulden kommen lassen, wenn es um Menschen geht, die auf der Flucht vor Krieg und Elend in Europa Schutz suchen.

Seit vielen Jahren schotten die europäischen Regierungen die Außengrenzen der EU immer dichter ab. Damit höhlen sie das Flüchtlingsrecht aus. Grundsätze des Völkerrechts, der Genfer Konvention und europäischen Rechts werden unterlaufen und oft auch unverhohlen verletzt. Von »Politikversagen« oder einer »Überforderung« kann längst keine Rede mehr sein. Auf dem Mittelmeer sterben Jahr für Jahr Tausende Menschen, weil die europäischen Regierungen die staatliche Seenothilfe eingestellt haben und zivile Seenotrettung mit allen Mitteln behindern. An den Landaußengrenzen der EU wird mit Billigung der übrigen Staaten massiv und systematisch Polizeigewalt gegen Schutzsuchende eingesetzt. Menschen, die es dennoch geschafft haben, etwa die türkisch-griechische Grenze zu überqueren, werden gezielt der Verelendung ausgesetzt. Staatlicher Rechtsbruch ist Alltag und er bleibt straflos.

All dies folgt demselben Kalkül: Je größer die Not, desto weniger neue Flüchtlinge kommen. Daher vermeiden europäische Regierungen auch nur den kleinsten Anschein von Hilfe für Geflüchtete. Doch diese Annahme ist nicht nur zynisch, sondern auch falsch. Denn sie unterschätzt völlig die Not und Verzweiflung, aus der Schutzsuchende fliehen. In ein untüchtiges Schlauchboot setzt man sich nur, wenn das Elend an Land größer ist als die Angst, zu ertrinken.

Wer sich mit dieser Politik der Abschreckung nicht abfindet und den fliehenden Menschen helfen will, findet sich in einem Kampf um Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, in dem die Kräfteverhältnisse ungleicher nicht sein könnten. Kleinen, aus privaten Spenden finanzierten Initiativen stehen staatliche Grenzschutzeinheiten und hochgerüstete EU-Behörden wie Frontex gegenüber.

Umso bemerkenswerter ist, wie aus unscheinbaren NGO-Büros und WG-Zimmern heraus, in Chatgruppen und an Küchentischen, ein mitmenschlicher Widerstand organisiert wird: Schiffe werden geschickt, Menschenleben gerettet, Eilverfahren gewonnen, Familien zusammengeführt, Luftbrücken gebaut und Regierungen unter Zugzwang gesetzt.

Besonders eklatant ist die Situation auf dem zentralen Mittelmeer.Dort sind seit dem Jahr 2014 über 20.000 Menschen ertrunken. Die staatliche Seenotrettung ist de facto eingestellt, nur zivile Organisationen betreiben noch Rettungsschiffe. Dies wird von Tausenden Spender*innen möglich gemacht – und von Hunderten ehrenamtlichen Helfer*innen. Unzählige Schritte braucht es, bevor ein Schiff gekauft und zum Rettungsschiff umgebaut werden kann: von Wertgutachten und Kaufverhandlungen über behördliche Registrierungen und Klassifizierungen bis zur Klärung von Versicherungsfragen und Krängungstests.

Die Anforderungen für die Genehmigungen, ohne die Rettungsschiffe nicht auslaufen können, sind in den vergangenen Jahren immer höher geschraubt worden. Zunächst versuchten die Staaten, die zivile Seenotrettung zu diffamieren oder zu kriminalisieren – etwa Besatzungsmitglieder wegen Beihilfe zu illegaler Einwanderung anzuklagen. Heute geht etwa Italien anders vor: Immer neue Vorgaben werden erdacht oder bestehende Verordnungen zum Nachteil der zivilen Seenotrettung ausgelegt.

Die Hafenbehörden versuchen bei stundenlangen Inspektionen Details zu finden, die trotz der akribischen Arbeit der Aktivist*innen gegen immer absurdere schiffstechnische Standards verstoßen: die Beschriftung eines Lüftungsschachts, das Erscheinungsjahr einer Seekarte oder die Anzahl von Toiletten und Schwimmwesten an Bord. Alles kann zum fadenscheinigen Grund werden, ein Rettungsschiff festzusetzen. Bürokratische Willkür ist somit das Instrument, mit dem Schiffe monatelang im Hafen festgehalten und die zivilen Organisationen zu zeitaufwendigen, teuren Umbauten gezwungen werden. Sie sollen an der Seenotrettung auf dem Wasser gehindert und in zermürbende juristische Gefechte an Land verstrickt werden. Diese Gerichtsverfahren kosten nicht nur Geld, sondern vor allem Zeit. Es kann Monate dauern, bis alle Instanzen durchlaufen sind. Monate, in denen Tag für Tag Menschen auf dem Mittelmeer sterben. Denn festgesetzte Schiffe retten nicht. Umso notwendiger sind daher neue Initiativen wie das Bündnis United4Rescue, das zwei zusätzliche Rettungsschiffe in den Einsatz brachte und der zivilen Seenotrettung organisationsübergreifend hilft, wenn akut Geld für Rettungseinsätze oder für die Ermüdungsschlacht mit den Behörden fehlt.

Auch in Griechenland spürt die solidarische Zivilgesellschaft wachsenden Druck. Wer eine Kleiderkammer, eine Essensausgabe oder ein Sprachcafé betreibt, um Geflüchteten zu helfen, muss sich seit Mitte 2020 staatlich registrieren.

Flüchtlingsschutzorganisation sowie alle Helfer*innen müssen sich seit Mitte 2020 speziell registrieren lassen. Der Staat drangsaliert die Helfer*innen, indem er sich etwa anmaßt, die »Effektivität« von Vereinen zu prüfen. Anderen wird die Registrierung schlicht mit willkürlicher Begründung verweigert. Vage Formulierungen machen die neuen Vorgaben zu einem Freifahrtschein für den Staat, die zivilgesellschaftliche Flüchtlingshilfe zu schikanieren.

Oberstes Ziel der griechischen Regierung ist es allerdings, Hilfsorganisationen den Zugang zu den Flüchtlingslagern auf den ägäischen Inseln zu verweigern. In diesen immer strenger abgeschirmten »EU-Hotspots« werden seit Jahren Tausende Menschen unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten.

Menschen mit juristischen Mitteln aus diesen Lagern herauszuholen ist das Ziel der deutsch-griechischen Rechtshilfeorganisation Equal Rights Beyond Borders. Dazu bietet sie Flüchtlingen anwaltliche Beratung. Doch nun wurde ihr trotz Erfüllung aller Auflagen die Registrierung verweigert – ohne Begründung. Vielleicht, weil Equal Rights mehrfach vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage gegen die griechische Regierung erhob – und stets gewann? Sicher ist nur, dass Equal Rights die Mittel des Rechtsstaats zu nutzen weiß und vor dem Obersten Verwaltungsgericht Griechenlands gegen die neue NGO-Gesetzgebung klagt. Die Klage ist von großer Bedeutung, nicht nur für alle anderen Flüchtlingsorganisationen in Griechenland, sondern auch für die Versammlungsund Vereinigungsfreiheit in Europa generell.

Ob auf dem Mittelmeer oder im Ärmelkanal, in Italien oder Griechenland, an der bosnisch-kroatischen Grenze oder der Grenze zwischen Polen und Belarus: Die rechtswidrigen Handlungsmuster an der EU-Außengrenze gleichen sich. Und es wird immer schwieriger, überhaupt von dem rechtswidrigen Vorgehen der Behörden zu erfahren. Überall an den Außengrenzen ist die Pressefreiheit massiv eingeschränkt. Zivilen Aufklärungsflugzeugen wird die Startgenehmigung für Flüge über das zentrale Mittelmeer verweigert, um die Dokumentation von Bootsunglücken und der illegalen Zurückweisung von Schutzsuchenden, sogenannten Pushbacks, zu verhindern. In Polen ist das Grenzgebiet zu Belarus, wo Schutzsuchende erfrieren und an Hunger sterben, zur militärischen Sperrzone erklärt worden, die Journalist*innen und Helfer*innen nicht betreten dürfen. In Griechenland verbietet ein neues Verschwiegenheitsgesetz, kritisch über die Zustände in den Flüchtlingslagern zu berichten. Unterbunden werden allerorts auch Bilder und Berichte, die Geflüchtete selbst machen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Handys werden willkürlich konfisziert oder, wie im Flüchtlingsgefängnis auf der Ägäisinsel Kos, nur erlaubt, wenn die Polizei zuvor die Kamera zerstört hat.

Es sollen keine Fotos aus dem Inneren der Lager nach außen dringen. Es soll keine Zeug*innen geben, keine Bilder, keine Beweise. Diese Rechnung darf nicht aufgehen.

Ansgar Gilster studierte Geschichte, Philosophie und »Genocide Studies« in Berlin, London, Siena und Warschau. Seit 2016 arbeitet er im Bereich »Migration und Menschenrechte« für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Er ist Mitgründer von United4Rescue und im Vorstand von Equal Rights Beyond Borders

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