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Seit 20 Jahren fahren die Mitarbeiter*innen der Mobilen Beratung des Kulturbüro Sachsen e. V. in Städte und Gemeinden und beraten und begleiten Menschen in der Auseinandersetzung mit Neonazismus, Rassismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Als in den Jahren 2004 bis 2014 die NPD im Sächsischen Landtag und in kommunalen Räten saß, fuhr ich als Beraterin häufig nach abendlichen Veranstaltungen voller Hochachtung für die Zivilcourage der Menschen in den kleinen Orten nach Hause. Wie viel einfacher ist doch das Engagement in der Anonymität der (Groß-) Stadt: Hier kann ich mich einer zivilgesellschaftlichen Initiative anschließen, kann mit vielen Gleichgesinnten an Demonstrationen teilnehmen und muss mich wenig um meine Sicherheit und die meiner Freund*innen sorgen. Ganz anders in den Dörfern und kleinen Städten: Nahbeziehungen, wie funktionierende Nachbarschaften, Familienstrukturen und traditionelles Vereinsleben, spielen eine wichtige Rolle, vermitteln Zusammengehörigkeit. In ländlichen Regionen schweißt die Menschen nicht selten auch das Gefühl zusammen, abgehängt zu sein, was sich nicht nur auf die mangelnde Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr bezieht. Fehlende zivilgesellschaftliche Strukturen erschweren das demokratische Engagement zusätzlich. Wenn rassistische, neonazistische und andere menschenfeindliche Einstellungen von vielen in der Bevölkerung geteilt werden, dann fällt es schwer, undemokratische oder gar neonazistische Erscheinungen zu benennen. Schließlich möchte ein jeder und eine jede auch gern zur Dorfgemeinschaft gehören.
Man könnte annehmen, dass die Situation mit dem Niedergang der neonazistischen NPD und dem Verlust ihrer Mandate in Stadt- und Gemeinderäten entspannter und dass demokratisches Engagement gefahrloser geworden ist. Weit gefehlt: Die Stimmung ist in den letzten Jahren deutlich aggressiver geworden. Die AfD hat in Sachsen inzwischen ein Stammwähler*innenpotenzial von über 20 Prozent. Seit 2017 erreicht sie damit bei allen Wahlen kontinuierlich mehr als 22 Prozent der Stimmen. Zum dritten Mal nach der Bundestagswahl 2017 und der Europawahl 2019 ist die AfD nun stärkste Kraft bei einer Wahl in Sachsen geworden. Besonders stark ist die AfD dort, wo rechte Tendenzen lange ignoriert wurden und stabile rechte Netzwerke existieren. In einigen Regionen Ostsachsens und der Sächsischen Schweiz erreichte sie bei der Bundestagswahl 2021 zwischen 40 und 50 Prozent der Erstbeziehungsweise Zweitstimmen. Die Strategie der permanenten Selbstverharmlosung – die Partei sieht sich gern als »konservativ«, »bürgerlich«, »Partei der Mitte« oder gar als »Volkspartei« – ist in diesen Regionen aufgegangen.
Zivilgesellschaftliche Initiativen und Vereine werden durch Anfragen der AfD im Landtag, in Kreistagen und Jugendhilfeausschüssen eingeschüchtert. In den Begleitausschüssen der Partnerschaften für Demokratie versuchen AfD-Mitglieder unliebsame Demokratieprojekte zu verhindern oder stellen selbst Anträge, um die Ziele des Programms zu konterkarieren. Die Stimmung ist vielerorts aggressiver geworden und demokratisches zivilgesellschaftliches Engagement schwerer. Die folgenden Beispiele zeigen, dass es mutig ist, in einem latent rechten Umfeld für demokratische Werte und Überzeugungen einzustehen. Zivilcourage braucht es mehr denn je.
Als der rechtsextreme Rapper Chris Ares im Juni 2020 über seine Social-Media-Kanäle bekannt gab, dass er in der Region Bautzen ein patriotisches Jugendzentrum mit Kampfsportund Musikangeboten eröffnen möchte sowie ein patriotisches Wohnprojekt plant, schlug dies sofort hohe Wellen in der medialen Öffentlichkeit. Niedrige Immobilienpreise, eine mehrheitlich als »weiß« wahrgenommene Bevölkerung, der geringe Anteil an Menschen mit Migrationserfahrungen, tief sitzende rassistische, völkische und andere menschenfeindliche Einstellungen, die sich in hohen Zustimmungswerten und Wahlergebnissen der AfD äußern, sowie wenig zivilgesellschaftlicher und politischer Widerstand ziehen extrem rechte Personen immer wieder in die ländlich geprägte ostsächsische Region. Diesmal sollte es anders werden. Bereits wenige Tage nach Bekanntwerden der Pläne des rechten Rappers gründeten junge Menschen der Region die Initiative Keep together – Zusammen gegen rechts, um sich gegen die Entstehung eines nationalen Jugendzentrums zu wehren. Mit Informationsveranstaltungen und Demonstrationen machte die Initiative aktiv auf das Thema aufmerksam. Eine Sprecherin der Gruppe nutzte die öffentliche Fragestunde der Stadtratssitzung in Bischofswerda und informierte die Entscheidungsträger*innen über Chris Ares’ Wirken in der neurechten Szene. Sie machte außerdem deutlich, was ein rechtsextremer Szenetreff für die Region bedeuten würde. Vor dem Rathaus protestierten zeitgleich junge Menschen unter dem Motto »Zukunftsvisionen dürfen nicht völkisch sein« gegen ein patriotisches Jugendzentrum. Schließlich stellten sich alle Stadtratsfraktionen hinter die Erklärung des Bischofswerdaer Oberbürgermeisters: »Wir werden uns als Stadtgesellschaft friedlich gegen menschenverachtendes, rassistisches und diskriminierendes Gedankengut zur Wehr setzen.« Dank des zivilcouragierten Engagements der Initiative Keep together – Zusammen gegen rechts konnte den rechtsextremen Ansiedlungsplänen etwas entgegengesetzt werden. Ihr Versuch einer rechten Landnahme blieb nicht unkommentiert.
Am 20. September 2021 – eine Woche vor der Bundestagswahl – hatte die regelmäßig montags in Bautzen stattfindende Mahnwache »für Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung und Souveränität« von Corona-Leugner*innen besonders viel Resonanz: An diesem Montag sollte die Sängerin Runa des extrem rechten Musiklabels Neuer Deutscher Standard die Kundgebung »musikalisch unterstützen«, hieß es in verschiedenen Telegram-Gruppen und auf Instagram. Die Gruppe der Teilnehmenden ist seit Beginn der Mahnwachen sehr gemischt: Da sieht man Menschen, die sich in der Vergangenheit für Frieden engagiert haben, Reichsbürger*innen, AfD-Stadträte, Familien mit Kindern neben Vertreter*innen der Neonazi-Parteien Freie Sachsen und Der III. Weg. An jenem Montag liefen circa 500 Menschen durch Bautzen, darunter mindestens 60 Neonazis. In Reden und auf Plakaten brachten sie ihren Hass, ihre Demokratiefeindlichkeit und Menschenverachtung zum Ausdruck
Unter dem Motto »Meinungsfreiheit? Ja, aber bitte mit Anstand« protestierten zeitgleich 70 überwiegend junge Menschen gegen Verschwörungsideologien und für Humanität, Weltoffenheit und Solidarität. Wer die Bautzener Situation kennt, weiß, dass das nicht ungefährlich ist: Mensch geht nicht einfach gegen Nazis demonstrieren und läuft dann mit Freund*innen unbehelligt nach Hause. Die Gegenprotestierenden müssen ihre Sicherheit selbst im Blick haben und gut aufeinander achten. Das Ende der rechten Demonstration erleben sie an jenem Montag nicht mehr – Runas Gesang bleibt ihnen dadurch erspart –, wichtiger ist es, sicher nach Hause zu kommen. Noch am selben Abend tauchen Bilder von Gegendemonstrant*innen im Netz auf. Ein Bautzner Nazi versucht mit dem Bild einer konkreten Person auf Instagram den Namen herauszubekommen: »Derjenige, der mir den Namen der Dame beschafft, bekommt 50 Aufkleber geschenkt!«
Im Mai 2016 zerren vier Arnsdorfer Bürger, darunter ein damaliger CDU-Gemeinderat, den jungen Iraker Schabas Al-Aziz, der sich zur Behandlung im Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie aufhält, aus einem Supermarkt und fesseln ihn mit Kabelbindern. Das wenige Tage später im Internet veröffentlichte Video zeigt AlAziz mit zwei Flaschen im Kassenbereich. Vier Männer betreten den Laden, beschimpfen ihn und bringen ihn gewaltsam nach draußen. Der Fall sorgt deutschlandweit für Empörung. Die Arnsdorfer Bürgermeisterin Martina Angermann verurteilt den Übergriff im Supermarkt. Sie bezeichnet dieses Verhalten – anders als die vier Männer, die in ihrem Verhalten einen Akt der Zivilcourage sehen – von Anfang an als Selbstjustiz. Von diesem Moment an sollte sich ihr Leben ändern: Sie wird für einige Menschen aus ihrer Gemeinde zum Feindbild, erhält Hassmails, wird auf einschlägigen Internetseiten verleumdet und mit Dienstaufsichtsbeschwerden überhäuft. Im April 2017 wird der Prozess gegen die vier Angeklagten nach wenigen Stunden mit der Begründung, den Angeklagten könne höchstens eine geringe Schuld nachgewiesen werden, überraschend eingestellt. Den Prozessauftakt nutzen circa 100 Neonazis und Rechtspopulist*innen vor dem Amtsgericht für ihre Machtdemonstration und weitere Einschüchterungen. Wenig später feiern Politiker*innen von NPD, AfD sowie Anhänger*innen der Pegida- und Ein-Prozent-Gruppierung gemeinsam ihren Erfolg. Der junge Iraker kann im Prozess nicht mehr aussagen: Erst Monate nach seinem Tod wird er in einem Waldstück gefunden. Im Oktober 2019 stellt die AfD einen Antrag auf Abwahl der Bürgermeisterin. Zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits seit neun Monaten mit einer Burn-out-Diagnose krankgeschrieben. Von offizieller Seite bekommt Frau Angermann kaum Unterstützung. Wer sich mit ihr solidarisiert, gerät schnell ins Visier rechter Stimmungsmacher*innen. Mit Sätzen wie »Wir wissen, wo ihr seid« werden Menschen, die das Vorgehen gegen Al-Aziz verurteilen, eingeschüchtert. Angermanns Vorschlag, das Thema im Gemeinderat aufzuarbeiten, wird abgelehnt. Bis heute wird Martina Angermann nicht müde, deutlich zu machen: Das war kein Akt von Zivilcourage, das war Selbstjustiz. Sie macht Kommunalpolitiker*innen Mut, für demokratische Werte einzustehen und in der Auseinandersetzung mit Neonazismus klar Position zu beziehen und den Menschen in den kleinen Orten den Rücken zu stärken, die sich seit Jahren für ein demokratisches Gemeinwesen und ein friedliches Miteinander engagieren.
Auch wenn die eine oder andere Nazi-Veranstaltung oder rechte Landnahme nicht verhindert werden kann, sollten Neonazismus und Menschenfeindlichkeit dennoch nicht unwidersprochen bleiben. Gerade in den ländlichen Regionen ist Zivilcourage für die Gestaltung eines demokratischen Gemeinwesens existenziell. Wer Zivilcourage zeigt, verteidigt die demokratischen Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität und macht anderen Menschen Mut, Haltung zu zeigen. Solange es von rassistischer und neonazistischer Gewalt Betroffene gibt, braucht es auch Menschen, die sich solidarisch anderen Seite stellen. Wer Zivilcourage zeigt, überlässt die Deutungshoheit über Themen nicht den Rechten, widersetzt sich der Diskursverschiebung und gestaltet eine demokratische Alltagskultur aktiv mit.
Petra Schickert arbeitet seit 2001 als Beraterin und seit 2020 als Fachreferentin in der Mobilen Beratung des Kulturbüro Sachsen e. V. Seit 2011 ist sie Mitglied im Sprecher*innenrat der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus