»Wenn ihr den Mose wegnehmt,
dann stürzt die ganze Mosekanzel und alles Übrige ein.« [i]
»Alles Übrige« stürzt mit dahin, wird der Mose, der die Kanzel trägt, weg gerissen – alles Übrige? Was meinte der Gemeindepfarrer von Vach/Fürth in seinen Predigten zwischen 1937 bis 1951 mit diesem Warnruf? Die Gemeinde erinnert sich noch heute an ihren Pfarrer Kurt Klein, der nicht nur den eindrucksvoll die Kanzel tragenden Mose allzeit in seiner Kirche begrüßen konnte, sondern auch von ihm den Dekalog in gehöriger Buch- und Schriftgröße präsentiert bekam. Die Gemeinde hält ihm – Mose wie Klein – die Treue, wenn sie heute einen Aufruf »Solidarität mit Juden« (6.11.2019) veröffentlicht.
»Alles Übrige...«, man denkt unmittelbar an das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf die deutsche kirchliche Lehre« in Eisenach, in dessen Gründungsprogramm all das steht, was seine Propagandisten, vor allem der – nach der gerichtlichen Billigung des Begriffs »furchtbare Juristen« – »furchtbare Theologe« Walter Grundmann, sich vorgenommen hatten. Oliver Arnholds quellenreiche Untersuchung dieses Monstrums samt seiner »Arbeitsgliederung« mit Namen (!), so wie die von Peter von der Osten-Sacken herausgegebenen Studien zu den Thüringer Deutschen Christen, »Das missbrauchte Evangelium«, lassen einen heute noch erschauern [ii].
Wer aber nach »1.700 Jahren Jüdisches Leben in Deutschland« weiterhin an und unter vielen Kanzeln steht, ist Mose. »Mose trägt die Kirchenkanzel«, der Mainzer Kirchenjurist Uwe Kai Jacobs [iii] richtet den Blick auf die Kirchen kanzeln in Nord- und Ostdeutschland sowie in Franken und verbindet Kirchenkunst, Theologiegeschichte und Rechtsgeschichte. Der Titel verführt dazu, jedes der drei Worte einmal für sich zu betonen, um ihre Tragweite zu begreifen. Warum Mose als Kanzelträger, nicht Christus, Paulus oder ein Engel? Viele Kirchen erhielten nach der Reformation ein der biblia pauperum ähnelndes Bildprogramm wie heute in vielen Kirchen in Südamerika: Auf die Brüstungsfelder, Kanzelkörbe und auf die Kirchendecken wurden biblische Szenen aufgemalt, wie Luther es für die Hauswände in Wittenberg wollte – bei ihm als pädagogisches Gegenprogramm zu den Heiligenbildern und als didaktische Erinnerungs- und religiöse Sehhilfe.
Die Alleinstellung Moses gegenüber Engeln und Heiligen beruht in seiner biblischen Rolle als Gesetzgeber, oft hält er beidhändig den Dekalog den Menschen vor. Gottes Wort ist auch »Lehre«, Moses erteilt diese Lektion, ist Lehrer des Volkes, Lehrer der elementaren Lebensregeln: Ehre Gott, stiehl nicht, morde nicht, heilige den Feiertag, sprich wahrhaftig, brich die Ehe des andern nicht, würdige die Alten – »Grundweisung und Feld des Menschen anstandes, (das) Ewig-Kurzgefasste, das Bündig-Bindende, Gottes gedrängte Sittengesetz«. So wird der Dekalog die Weisung des Rechttuns und des »Menschenbenehmens«, wie es Thomas Mann [iv] demokratisch-politisch ausdrückt, der Kirchenjurist Jacobs 2021: »Chaosprophylaxe« dem Dekalog testiert [v].
In der noch ungetrennten Christengemeinde und Bürgergemeinde erreicht Mose mit seiner Lektion von der Regel des Lebens und der Norm des Rechts alle Menschen – das »Schwarze Brett« der Obrigkeit an der Kanzel.
»Die Kanzel zeigt also ›was gilt‹«. Das entspricht der lutherischen Tradition: An vielen Orten ein selbstbewusster und aufrecht stehender Verkündiger des himmlischen Willens. Es wird zu oft vergessen, dass es zwei Reformationen gab und sehr unterschiedliche Positionen zur Thora. Reformierte Theologie geht den Weg des Bilderverbots, der Machtkritik: mit der Folge, dass wir keine machtverkörpernde Person wie Mose antreffen, sondern das »Zehntwort« als ästhetisch herausgehobene Worttafel an den Kirchenwänden.
Auffallend ist die formgetreue Weiterführung der Tafelstruktur des Dekalogs aus der jüdischen Tradition: Zwei Reihen Gebote, parallel aufgestellt: Eins bis Fünf und Sechs bis Zehn. Es gibt im Judentum Traditionen, die die Gebote wechselseitig auslegen, das 1. Gebot legt das sechste aus und so fort. Es muss noch erwähnt werden, dass es auch gekrümmte, gebeugte, »unansehnliche« Mosefiguren gibt. Ihnen eine auch theologische Gebrochenheit zu unterstellen, wäre falsch, denn es bleibt dabei, dass sie den Dekalog zeigen und die Kanzel der Predigenden tragen, mag sein, auch ertragen. Dagegen treffen Überhöhung, Überbietung oder Deklassierung bei dem ebenfalls neben einander stehenden Paar »Ecclesia und Synagoga« (Bamberg, Straßburg u.a.) auf beschämende Weise zu. Die »Judensau« in Wittenberg ist der schrecklichste Kontrast zum Kanzelträger Mose. Martin Luther konnte sie täglich sehen... [vi]
Da es keine Zeugnisse gibt, die Moses entjudaisieren oder christianisieren wollen, gehört seine Kanzelträgerschaft zu den 1.700 Jahren jüdischen Lebens
62in Deutschland unausschließbar hinzu. Dem »Alten Testament« christlich gesprochen, der »Thora« jüdisch gesprochen, der »Kanzelstütze« skulpturtechnisch gesprochen, der »Profilperson« politologisch gesprochen, ver danken wir die eine der beiden biblischen Bild-Botschaft, Mose. Er gibt der Kanzelbotschaft den Grund. Die andere, das Kreuz, der Gekreuzigte, Christus, gibt der Kanzelbotschaft Aufbruch und Hoffnung. Mose und Christus, Grund und Aufbruch sind Anfang und Ausgang, sind in gemeinsamer und fruchtbar verschiedener Weise Gestalt des Judentums und des Christentums seit 1.700 Jahren in Deutschland.
Und noch viel eher und noch viel länger.
[i] 6.11.2019
[ii] Oliver Arnhold, »Entjudung« von Theologie und Kirche, Leipzig 2020; Peter von der Osten-Sacken, (Hg.): Das missbrauchte Evangelium, Studien zu Theologie und Praxis der Thüringer Deutschen Christen, Berlin 2002.
[iii] Uwe Kai Jacobs, Mose trägt die Kirchenkanzel, in: MaTheoZ, Mainz, WiSi 2020/21, 69-97
[iv] Thomas Mann, Das Gesetz, in: Ders., Der Tod in Venedig und andere Erzählungen, Frankfurt 2004,60. Aufl., S.259-326.
[v] Jacobs, a.a.O.
[vi] Martin Luther und das Judentum, Rückblick und Aufbruch, Ausstellung der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und des Touro College Berlin, 2016, 2. Auflage.