Carmen über ihre Arbeit im Leo - Baeck Institute Jerusalem

Carmen Stamm war Freiwillige in der Generation 2016/2017. Sie arbeitete im Leo - Baeck Institue in Jerusalem und im Elternheim "Siegfried Moses".

Carmen Stamm

»Bevor nun ich mich in den Erzählungen über meine alten Damen verliere, betrete ich in Gedanken die Bibliothek des Leo Baeck Instituts. In ihr befinden sich Schätze. Doch ich musste erst lernen, sie als Schätze betrachten zu können. Durch die Arbeit im LBI hat sich meine Beziehung zu Büchern, mein lesen also, neu gestaltet. Hier ein Beispiel für eben diese Arbeit. Im Frühjahr startete das LBI zusammen mit dem Beit Ben Yehuda (Landesbüro von ASF und internationale Jugendbegegnungsstätte) eine Kooperation mit dem Namen Dor Siach. Hierbei handelt es sich um ein monatlich stattfindendes generationsübergreifendes Gespräch. Wie sich vermuten lässt, stecke ich mittendrin. Der Start, also der Versuch diesen Dialog zu etablieren, ist mühsam und holprig. Immer neue Themen und jedes Treffen die Bange, ob und wie viele Teilnehmende kommen. Doch es gibt auch Erfolge. Das vierte Treffen fand am Dienstag, den 27. Juni im Leo Baeck Institut statt. Das Thema: Lesen. Die Idee, ihre Konzeption und Durchführung, sprich Moderation, stammten allein von mir. Wie bereitete ich mich darauf vor? Ich las. Ich las die Broschüre zum Buchpaket C.Z. Kloetzel, teil der Aktion "Keine leichten Pakete". Das Goethe-Institut Jerusalem nahm sich vor einigen Jahren dem unaufhaltsamen Lauf der Dinge an. Durch die Entwicklung der modernen Hebräischen Sprache geht die Nachfrage nach deutschsprachiger Lektüre in Israel immer weiter zurück. Doch wimmelt es hier im Land von Büchern, die die Menschen auf ihrer Flucht, bei ihrer Einwanderung mitbrachten. So wurden also "Keine leichten Pakete" geschnürt und nach Deutschland verschickt. Nicht ohne Beilage, versteht sich. Also las ich von Cheskel Zwi Kloetzel (1891 - 1951). Einer der frühen Zionisten, deutscher Journalist. Jude. Geprägt von der Literatur. Unser Landesbeauftragter empfahl mir, mich mit Marcel Reich-Ranicki zu beschäftigen. Ich begann das "Literarische Quartett" zu schauen und seine Autobiografie zu lesen. Und vor allem las ich einen Aufsatz zu intellektuellem Widerstand in Theresienstadt. Ich beschäftigte mich also mit der Bedeutung des Lesens für Menschen am Rande des Abgrunds. Und jede meiner Lektüren vernetzte sich mit der anderen. Reich-Ranicki erzählt in "Mein Leben" von Büchern, die gleichzeitig auch im Ghetto Theresienstadt gelesen wurden. Dort gab es eine herausragende Bibliothek. Sie diente nicht etwa allein dem Überleben der Erniedrigten, sondern war sie vielmehr ein kleines Lieblingsprojekt Adolf Eichmanns. In der Ghettobücherei wurde jüdische Literatur gesammelt und katalogisiert, von Juden und Jüdinnen natürlich. Die erfassten Exemplare sollten der Sammlung des "Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands" zugeführt werden. Die Nazis planten nach dem siegreichen Krieg und der erfolgreichen Vernichtung des jüdischen Volkes eine Art Museum zu eröffnen, indem das unterjochte und ausgerottete Feindesvolk zur Schau gestellt werden sollte. Den Stempel dieses Instituts fand ich in einem der Bücher C.Z. Kloetzels in unserer Bibliothek. Ein anderes war gezeichnet vom Aufkleber der "Jewish Cultural Reconstruction". So wurden mehrere Millionen Bücher gekennzeichnet, die nach Kriegende von den Alliierten aus den Raubgutbeständen der Nazis geborgen wurden. Heute, ganz aktuell, bemühen sich vor allem Studierende, solche Bücher ihren rechtmäßigen Erben zuzuführen. Wie das? Die Nazis haben akribisch Buch geführt über das, was sie an sich nahmen, insbesondere Bücher.

Natürlich konnte ich nicht alle Ergebnisse meiner eher überraschend zustande gekommenen Recherche in unseren Dialog stecken. Denn dabei handelt es sich weniger um ein Treffen der akademischen Intellektuellen, sondern vielmehr um ein lockeres Gespräch zwischen Menschen, die eben so sind, wie sie sind. Was brachte mir also mein Gelese? Das nötige Selbstbewusstsein gab es mir. Ich hatte nun Ahnung davon, wie sehr Lesen Privileg, Geschenk und Rettung sein kann. Ich konnte mich hineinversetzen in das, was manche der Teilnehmenden hinter sich hatten. Ich habe mich gebildet. Ich tat, worüber wir sprachen. Ich las. Das war herrlich. Und so auch der Abend. Die Moderation glückte, die Teilnehmenden waren offen und gesprächig, ich wurde gelobt. Auch sonst läuft alles im israelischen Trott.

Das Austrian Heritage Project wird weiterhin von mir bearbeitet. Doch es ist ein Mammutprojekt. Vorerst werde ich mich noch mit dem beim Gedenkdienst Verantwortlichen über unsere Bestände in der Datenbank und dem Archiv austauschen und dann alles nötige für meine Nachfolgerin vorbereiten. Schon in zwei Wochen muss ich mich dann von meinen Kolleg*innen und den Büchern verabschieden, da das Institut im August seine verdiente Sommerpause einlegt. Es war eine intensive Zeit. Viele Überstunden gingen zwar nicht immer, aber meistens leicht von der Hand. Die intime Atmosphäre im kleinen Kollegium lebt von Wertschätzung, ehrlichem Umgang, Team- oder auch gekonnter  Einzelarbeit. Von Ruhe und Gelassenheit und kleinen Gefälligkeiten. Dort lässt sich's wohlfühlen. Und wenn die anderen doch mal nerven, ist sicher, dass die Bücher nicht ungefragt sprechen. Schon der zweite Dor Siach im April kam zum Thema Erinnerung zusammen. Und klar wurde neben allem Offensichtlichen, dass auch der Geruch, ein bestimmter Duft, große Macht über unser Gedächtnis hat. Ich werde den alten modrigen und erdigen Duft unserer Bibliothek nie vergessen. Und den in der Nase krabbelnden Staub auch nicht. Und schon gar nicht den ein oder anderen Bücherwurm, der die Archivar*innen in nackte Angst versetzt.«

 

Der Text ist ein Auszug aus Carmens Projektbericht. Juli 2017