Max Jakob Lindemann war 2015/2016 Freiwilliger in Tel Aviv. Er arbeitete im "Beit Anita Müller Cohen, einem Altersheim, sowie im Kantor Center for the study of Contemporary European Jewry.
»Bei ASF gefiel mir damals besonders das Konzept der Kombiprojekte: bei mir ist das zum einen das Beit Horim Anita Müller-Cohen in Ramat Gan, ein Altenheim für aus Mitteleuropa stammende Juden und Jüdinnen (primär aus Österreich) und zum anderen das Kantor Center for the Study of Contemporary European Jewry, einem Institut an der Tel Aviv University, das zu Antisemitismus und Rassismus forscht. Meine Arbeitswoche gliedert sich dementsprechend auf. Insgesamt verbringe ich wesentlich mehr Zeit im Elternheim als am Institut. Die ersten drei Tage, also Sonntag bis Dienstag verbringe ich im Beit Horim Anita Müller-Cohen, am Mittwoch und Donnerstag bin ich im Kantor Center. Es war ein Glück, dass ich genau für jene Projekte ausgewählt wurde, die ich mir gewünscht hatte.
Um näher auf die konkrete Gestaltung der Arbeit einzugehen, fange ich einmal damit an, das Elternheim Anita Müller-Cohen vorzustellen und meinen Arbeitsalltag zu beschreiben. Das Elternheim wird von der Organisation Irgun Jozei Merkas Europa, der Dachorganisation aller aus Zentraleuropa nach Israel ausgewanderten (deutschsprachigen) Juden und Jüdinnen, geleitet. Irgun Merkas Europa besitzt mehrere Elternheime in ganz Israel, in denen teilweise Freiwillige von ASF arbeiten. Das Beit Horim Anita Müller-Cohen steht dabei vor allem für die österreichischen Juden und Jüdinnen. Viele der Bewohner, die ich getroffen habe, stammen aus Wien und sind vor oder nach 1945 nach Israel gekommen. Jedoch zeichnet sich in den letzten Jahren ein Wandel ab. Inzwischen ist die Zielgruppe des Elternheims nicht mehr ausschließlich Juden und Jüdinnen aus Österreich. So sprechen einige der ungefähr 100 Bewohner auch gar kein Deutsch.
Von den Bewohnern im Altenheim sind gut 30 pflegebedürftig, die anderen leben weitgehend selbstständig. Schön an diesem Projekt ist nicht zuletzt, dass diese Stelle auch mit einem österreichischen Freiwilligen besetzt ist, der die ganze Woche im Anita Müller-Cohen arbeitet. Wenn ich vor Problemen stand, konnte er, der schon einen Monat länger im Elternheim war, mir helfen und viele der Aktivitäten erledigen wir gemeinsam.
Gut die Hälfte der Zeit verbringe ich auf der Pflegestation. Das bedeutet morgens und mittags Essen reichen, Gespräche - soweit möglich - führen, beim Malen, Basteln, usw. helfen, den Pflegern zur Hand gehen, dann und wann auch Spazierengehen. Mir selbst gefällt dieser Teil der Arbeit sehr und meinem österreichischen Mitfreiwilligen geht es ähnlich: Ich kann mir aber vorstellen, dass manchen dies unangenehm sein könnte. Es ist seltsam, anderen Menschen Essen zu reichen und schwierig, die Bewohner von einem auf den anderen Tag „abbauen“ zu sehen. Viele auf der Pflegestation sind an Demenz erkrankt und erkennen mich auch nach Monaten nicht. Mit vielen Bewohnern ist eine Unterhaltung nicht möglich - bei anderen wiederum ist man oft erstaunt, wie scharf und lustig ihre Antworten sind.
Die meisten der Mitarbeiter auf der Pflegestation sprechen nur Ivrit und häufig Russisch. Man kann noch so oft darauf hinweisen, dass man kein Wort versteht – davon lässt man sich nicht irritieren. Wohl oder übel wird man zwangsläufig dazu gedrängt, möglichst schnell Ivrit zu lernen, um zu mindestens verstehen zu können, was zu tun ist. Wenn ich höre, dass andere Freiwillige vor mir bereits am Ende des Jahres fließend Hebräisch sprechen konnten, werde ich wirklich etwas neidisch. Darum beschwere ich mich natürlich nicht über die Sprachbarrieren und sehe die Notwendigkeit, Vokabeln und Grammatik zu pauken.
Neben der Pflegestation, auf der sich eben jene Bewohner befinden, die sich physisch oder psychisch nicht in der Lage sehen, ohne Hilfe anderer zu leben, sind die meisten Damen und Herren im Elternheim selbstständig. Sie wohnen in Einzelzimmern, die nett eingerichtet sind. In der Nähe befinden sich mehrere gemütliche Cafés, einige Läden für Lebensmitteln, Blumen und ähnliches und einige Parkanlagen. Es ist schön zu sehen, wie abwechslungsreicher und interessanter das Leben im Elternheim gestaltet ist. Vorlesungen über Komponisten, Mal- und Zeichenkurse und Turnstunden sind nur einige Beispiele. Dieses Programm machte es mir allerdings schwer, eigene Ideen, die ich vor Beginn des Jahres hatte, in die Tat umzusetzen: Alles, was ich mir als mein „persönliches“ Angebot vorgestellt hatte, gab es bereits.
Oft besuche ich Bewohner, mir denen ich zusammen sitze und über Politik, die Familie, das Altenheim und vergangene Zeiten rede. Meistens höre ich zu und werfe ab und zu Fragen ein, manchmal rede ich aber auch über mich und was mir in Israel so passiert. Mit einem anderen Bewohner wiederum gucke ich regelmäßig Sport im Fernsehen - Fußball, Tennis, Formel 1 etc. Dann wiederum gehe ich mit einer Bewohnerin jede Woche in den Park und danach in ein nahegelegenes Café, wo wir uns unterhalten, Tee oder Kaffee trinken und Apfelstrudel essen. Mit einer weiteren Bewohnerin gehe ich jede Woche ihre Dokumente und Briefe durch, die ich sortiere und dann jeweils einordne.
Die Aufgaben sind ganz unterschiedlich, mal muss ich jenes im Supermarkt besorgen, mal helfe ich bei etwas anderem. Die unabhängigen Bewohner, die ich jede Woche besuchen, können allesamt deutsch - auch wenn sie teilweise anderes behaupten.
Die Gespräche drehen sich selbstverständlich auch immer um das Dritte Reich. Gleich am ersten Tag im Altenheim, saß ich mit einer Dame zusammen, die mir ihre Geschichte erzählte. Sie war in mehreren Lagern und beinahe ihre gesamte Familie - Mutter, Vater, Geschwister - waren umgekommen. Als sie sah, wie sehr mich dies mitnahm, unterbrach sie ihre Erzählung und sagte, wir könnten ein anderes Mal weiter darüber reden. Über solche Erzählungen kann man nicht einfach weggehen und jedes Mal, wenn wir auf die Shoa zu sprechen kommen, fällt mir keine Reaktion ein, die angebracht zu sein scheint. Wie verhält man sich, wenn bei der Frage, ob die Henne bei der Stadt-Land-Fluss-Kategorie “Tier” eine Untergruppe des Huhns ist, eine Frau verschmitzt grinsend in die Runde ruft, die Henne sei eine “andere Rasse”; und wenn bei Städten mit “B” Bergen-Belsen, Buchenwald, etc. genannt werden?«
Der Text ist ein Auszug aus dem ersten Projektbericht von Max aus dem Januar 2016.