Henry erzählt aus dem Projekt Beit Rachel Strauss | Jerusalem

Henry Leon Boettcher war 2018/2019 Freiwilliger in Jerusalem und arbeitete im Projekt Beit Rachel Strauss sowie in der offenen Altenarbeit mit Irgun Jozei Merkaz Europa.

»Nach wie vor ist mein Hauptprojekt mein Ein und Alles. Diese Schule ist der Wahnsinn. Die Bindungen zu meinen Schülern haben sich intensiviert. Besonders zu meinen Bezugsschüler*Innen wie Or Chaim, Eden, Maor und Rafi. Aber auch Kerem, eine Schülerin, die zu Beginn des Jahres auf gar keinen Fall mit mir arbeiten wollten und mir eher ablehnend gegenüberstand, meldet sich jetzt freiwillig, um mit mir das Mittagessen zu holen, nimmt mein Hand und spricht mit mir, wenn sie sich nicht gut fühlt. Bei Kerem war das für mich ein sehr großes Kompliment und hat mich mit großem Stolz erfüllt. Einen großen Teil dieser Entwicklung schreibe ich meinen mittlerweile durchaus akzeptablen Hebräisch-Kenntnissen zu. Eigentlich brauche ich auf der Arbeit kein Englisch mehr im Alltag. Mit einigen Kolleg*Innen spreche ich der Bequemlichkeit halber trotzdem manchmal noch Englisch, und wenn es um organisatorische Dinge mit meiner Chefin geht, ist die Hälfte des Gesprächs in der Regel auch in Englisch, weil mir das entsprechende Fachvokabular fehlt. Die drei Zeitformen beherrsche ich mittlerweile recht sicher, und kann sie selbstständig bilden, wenn ich weiß zu welcher Konjugationsgruppe der Infinitiv gehört. In meiner Freizeit habe ich manchmal noch Hemmungen und Angst Fehler zu machen, weshalb ich öfter auf Englisch zurückgreife, um mich sicherer zu fühlen. Eigentlich dumm, oder? Meine Arbeit wird von allen Seiten wertgeschätzt und ich fühle mich wie ein vollwertiges Mitglied des jeweiligen Teams, in den ich am betreffenden Tag arbeite. Auch Privat unternehme ich mit einigen Kolleginnen was. Ornash, eine Lehrerin für physiologische Förderung und Hydrotherapie, habe ich bereits zweimal für ein paar Tage in ihrem Zuhause, dem Kibbuz Nachshon besucht. Beide Male hatte ich eine großartige Zeit und wurde von ihr und ihrer Familie aufgenommen wie ein eigenes Kind. Elisheva, die Musiklehrerin, läd gelegentlich zum Dinner in ihren Zuhause nahe dem Shuk, ich bringe Wein und Dessert mit und genieße ihre Kochkünste und die Unterhaltungen. Auch die Jerusalem Pride, die alljährliche Demonstration für Gleichberechtigung von queeren Menschen, habe ich mit Ornash und Tal, einer weiteren Lehrerin, besucht. Ihre Solidarität und Unterstützung bedeutet mir sehr viel. Auch mit den Assistent*Innen in der Schule bin ich zusammengewachsen. Ob bei der Arbeit, in der Pause, beim Rauchen draußen oder bei Veranstaltungen, wir arbeiten Hand in Hand und sind immer zu Späßen aufgelegt, wenn unsere Schülis uns nicht die Energie dazu geraubt haben.

Inhaltlich verstehe ich die Frontalunterrichts-Einheiten mittlerweile und muss nicht mehr blöd nachfragen, worum es gerade eigentlich geht. Ich liebe es, mit meinen Schülis zu reden, zu hören, wie es ihnen geht, wie ihr Shabbat war, was sie gerne mögen. Besonders stolz bin ich, wenn die Schüler*Innen, die keine oder kaum Lautsprache beherrschen, mir computergestützt oder mit Gebärden von ihrem Shabbat-Wochenende erzählen. Ich antworte dann mit Lautsprache, teils gebärde ich auch ein bisschen. Und wir verstehen uns eigentlich immer. Das ist ein großartiges Gefühl. Meine Zeit hier hat mir klargemacht, wie wichtig es ist, aufmerksam zuzuhören und hinzuschauen. Die richtigen Fragen zu stellen. Verstehen und die Bereitschaft und der Wille zu Verstehen sind für mich der Schlüssel zu guter pädagogischer Arbeit.

Nun möchte ich gerne noch die wichtigsten großen Ereignisse des vergangenen Schuljahres zusammenfassen. Als erstes muss ich da natürlich den Tiul Shnati, den zweitägigen Schulausflug mit Übernachtung in Haifa erwähnen. Wir waren in zwei großen Reisbussen unterwegs, mit nahezu allen unseren Schülis und fast allen Mitarbeiter*Innen. Wir haben uns verschiedene Sehenswürdigkeiten angeschaut, zum Beispiel eine Höhle, in der Neandertaler-Knochen gefunden wurden, einen Strand, an dem statt Sandkörnern nur Muscheln am Ufer liegen und einen Wald mit einem kleinen See. Es war wunderschön. Und immens anstrengend. Ich habe mit den Jungs aus Shiras Klasse in einem Zimmer geschlafen, Or Chaim und Or Perlin. Or Chaim ist es nicht gewohnt, ohne seine Mutter zu schlafen, er hat mich jede Stunde geweckt und ich musste ihn beruhigen, ihm gut zureden und ihn trösten. Er war dabei so wahnsinnig süß, dass ich ihm nicht böse sein konnte, auch wenn er mir meinen kompletten Schlaf geraubt hat und ich mich am nächsten Morgen gefühlt habe, wie nach drei durchgefeierten Nächten, und laut Aussagen meiner Mitarbeiter auch so aussah. Meine Augenringe an diesem Tag hätten jedem Panda Konkurrenz gemacht.

Auch die vielen jüdischen Feier- und Trauertage habe ich in der Schule hautnah miterlebt. Darunter Yom HaShoa, den Holocaust-Gedenktag, Yom HaSikaron, den Gedenktag für gefallene Soldat*Innen (eigentlich jede Familie in Israel hat Mitglieder durch den Konflikt verloren), Yom HaZma'ut, den Unabhängigkeits-Tag, Shavuot (da isst man sehr viel Käse, ich hab aber vergessen warum #leidergeil) und Lak BaOmer, um nur einige zu nennen. Besonders interessant fand ich den Wechsel von Yom HaSikaron, einem Tag tiefer Trauer, der nahtlos in den Unabhängigkeits-Tag, einen sehr sehr feuchtfröhliches Fest übergeht. Irgendwie ein bisschen schizophren, was? Einer meiner Arbeitskollegen wünschte mir im Vorfeld eine „interessante Erfahrung mit den jüdischbipolaren Feiertagen“. Ich glaube, das sagt alles, oder?

Als letztes muss ich natürlich noch die Schuljahres-Abschlussfeier erwähnen. Wir befinden uns jetzt bereits in der Ferienbetreuung, das reguläre Schuljahr ist zu Ende. Am Ende des Schuljahres werden alle Eltern für einen Abend in die Schule eingeladen, es gibt (verdammt geile) Häppchen und Getränke. Hauptattraktion des Events ist natürlich die Aufführung der Schüler*Innen. Jedes Jahr ist das Motto ein anderes, aufgrund des Eurovision-Songcontests in Tel Aviv dieses Jahr wurde beschlossen, einen eigenen „Songcontest“ auf die Beine zu Stellen. In der Regel zwei Klassenverbände taten sich zusammen, um eine Choreografie zu einem bekannten hebräischen, teils auch arabischen Song einzustudieren. Für den Schluss haben wir noch eine Mitmach-Choreo einstudiert, um mit dem Publikum gemeinsam zu tanzen. Ich habe in zwei Klassenaufführungen sowie dem Abschlusstanz mitgewirkt und es hat mir riesig großen Spaß gemacht. (Auf Nachfrage gibt es ein Video für Interessierte.) Es war ein großartiger Abend, voller Aufregung und Adrenalin für uns und die Schüler, ich wurde von allen Seiten für meine Tanzkünste (danke liebe Eltern für dieses Talent) und den Umgang mit den Schülern gelobt. Und Leute, diese Häppchen! Als der Abend dann vorbei war, waren wir alle aber auch irgendwie froh, dass die monatelangen Proben ein Ende hatten. Und die Schülis? Die fragten am nächsten morgen eiskalt, ob wir denn nochmal eine Generalpobe machen. Die Gesichter meiner Kolleg*Innen – unbezahlbar. Die Abschlussfeier war für mich auf vielen Ebenen tief beeindruckend. Die wochenlange Vorbereitung, Kosten, Mühen, all das endete in einer wirklich festlichen Atmosphäre. Besonders gefreut habe ich mich auch darüber, mit den Eltern meiner Schülis näher ins Gespräch zu kommen. An diesem Abend konnte man die Liebe und das Glück förmlich aus der Luft atmen.

Wenn ich daran denke, dass ich dieser großartigen Schule und all meinen kleinen und großen Herzensmenschen dort bald Lebewohl sagen muss, bin ich natürlich traurig. Aber ich bin sehr zufrieden mit meiner Arbeit. Ich weiß durch Rückmeldungen von Kolleg*Innen und auch durch meine eigene Einschätzung, dass ich einen guten Job gemacht habe und wirklich zufrieden sein kann. Und ich bin sicher, dass ich von Zeit zu Zeit auf einen Besuch vorbeikommen werde, wenn ich mal wieder im Lande bin. So machen das auch viele Vorgänger*Innen von mir. Ich bin jetzt schon gespannt auf den nächsten Besuch, denn die Schule bekommt bald ein neues Gebäude, dort wo gerade noch der Parkplatz für meine Kolleg*Innen ist.«

 

Der Text ist ein Auszug aus Henrys zweitem Projektbericht aus dem Juli 2019.