COVID-19 kam und wir mussten gehen

Kontantin war in der Freiwilligengeneration 2019/2020 Freiwilliger im Beit Ben - Yehuda und berichtet hier davon, wie die Corona - Krise seinen Friedensdienst beeinflusst hat.

Das hebräische Wort „balagan“ ist eines der ersten Wörter, die ich in Israel gelernt habe und es heißt so viel wie Chaos. Im Chaos liegt die Ordnung, so war mein Gefühl zu Beginn in Israel und nach diesen sechs Monaten kann ich mein Gefühl diesbezüglich bestätigen. COVID-19 war anfangs nur eine Nachricht, die sich in China abspielte. Als Ende Februar Purim (das jüdische Faschingsfest) näher rückte, rückte auch COVID-19 näher in unsere Sphäre. Israel reagierte entschieden, da infizierte Reisende das Virus ins Land brachten. So wurde das große PurimStraßenfest abgesagt, der Jerusalem-Marathon verschoben, Veranstaltungen über 5.000 Leuten untersagt, Veranstaltungen über 1.000 Leuten untersagt, Einreisebestimmungen verschärft, Reiseeinschränkungen beschlossen. Die Situation hat sich täglich zugespitzt. Ein Großteil der Projekte wurde ausgesetzt, teilweise noch versucht Homeoffice einzurichten, doch im Besonderen die sozialen Projekte mit Kindern und Älteren wurden ausgesetzt. Daher kam die Idee auf außerhalb des Projektrahmens zu helfen und es wurden auch Verbindungen zu Ministerien aufgebaut. Die Überlegungen schlossen Einkaufs- oder Botengänge und Babysitting ein. Zu diesem Zeitpunkt war ich trotz allem entschlossen in Israel zu bleiben, mein Altenprojekt (10h) wurde gestrichen, doch meine Arbeit im Gästehaus (30h) setzte fort. Zwei meiner Mitbewohner beschlossen den Dienst auszusetzen und nach Hause zu fliegen. Wenig später (16.03) flog eine Mail von ASF in Berlin ein mit der Aufforderung zur Rückreise nach Deutschland. Nach Rücksprache mit meiner Familie, beschloss ich zurückzukommen. Zwar bestand die Möglichkeit auf eigenes Risiko und mit Unterstützung von ASF zu bleiben, doch löste sich diese Option am nächsten Tag mit dem Rückruf aller Freiwilligen durch die Geschäftsführerin von ASF auf. Ich konnte also am 19.03.2020 mit ein paar anderen nach Deutschland zurückfliegen - von der neuen Heimat in die alte Heimat. Abschiedsfeiern wurden begangen, das Packen gestartet und das Aufräumen bestmöglich angegangen.

 

Nun bin ich also im Lande, Zuhause, Daheim. Ich bin in Geschäfte gegangen und wollte die Leute mit einem kräftigen „Shalom“ und „Ma nishma?“ oder „Marhaban!“ begrüßen, doch ich bin in Deutschland und hier ist man nicht laut und mir kommt es auch so vor, als wäre man hier nicht freudig und freundlich. Ich bin in Deutschland und hier herrscht Ordnung. Doch trotz dieser Ordnung schlief ich lange aus und hatte kaum etwas zu tun. Einzig mein Ulpan (Hebräischkurs), der online weiterlief, und Sport waren meine Konstanten in der Woche, sodass ich merkte, wie die Woche verging. Zum Glück konnte ich mich durch vielerlei Onlineangebote aufmuntern und weiterbilden; so z.B. die Zoom-Meetings des Jungen Forums der Deutsch-Israelischen Gesellschaft oder der DIG selbst, als auch die Zoom - Livestreams der Bildungsstätte Anne Frank und des ZWST. Dabei hatte ich die Möglichkeit mit Seyran Ates zu sprechen (JuFo), Richard C. Schneiders Analyse von Israel (DIG) zu lauschen und ein Buch von Amos Oz zu gewinnen (JuFo). Darüber hinaus baute auch das ASF-Team in Israel Onlineseminare auf, in denen wir über die Erinnerungskultur in Deutschland und Israel, die jüdische Diaspora und ihr Verhältnis zu Israel als auch über die äthiopischen Juden/Israelis redeten. Diese Onlineangebot zum Weiterbilden, welche so schnell aufkamen und ich hoffe, lange weitergeführt werden, haben mich intellektuell am Leben gehalten und mir eine Kontaktmöglichkeit zu anderen und Kennenlernen von anderen gegeben, für was ich sehr dankbar bin. Als dann das wilde Chaos von Lockerungen losbrach, entschloss ich mich hier (d.h. in Deutschland) zu engagieren und habe seit Ende Mai die Moses Mendelssohn Akademie in Halberstadt in ihrer Planung der neuen Dauerausstellung unterstützt und seit Anfang Juni habe ich mich auch ehrenamtlich bei der Diakonie in der Arbeit mit Menschen mit Taubblindheit und Mehrfachbehinderung engagiert. Die Arbeit in der MMA zeigt mir neue Blickwinkel und Facetten aus der jüdischen Welt in meiner Heimatstadt auf und wieviel auch in meiner Heimat, die ich ja eigentlich kennen sollte, noch unentdeckt ist. Die Arbeit in der Diakonie hingegen lässt mich Verhalten und Denkmuster gegenüber Menschen (mit Behinderungen) hinterfragen; für beides bin ich sehr dankbar. Doch auch im Beit Ben Yehuda geht zumindest die Bildungsarbeit weiter und ich helfe dem Team Texte wie diesen zu schreiben und Recherche zu betreiben. Wie es jetzt weitergeht für uns und für mich weiß ich so sicher wie ob eine zweite Welle kommt oder nicht, aber ich weiß, was ich in meiner alten geordneten Heimat aus der neuen chaotischen Heimat vermisse:

Ich vermisse die Kaffeepause mit Azmi, Ibrahim und Avi; Ich vermisse die frischen und weichen Pitot aus den israelischen Supermärkten und den cremig samtigen Hummus; Ich vermisse die Alten aus meinem Projekt, die sich immer gefreut haben, wenn ich Ihnen am Mittwochnachmittag schon „Shabbat Shalom" gewünscht habe und sich anfangs wochenlang gesorgt haben, weil ich keine Kippa trage, bis sie merkten, dass ich nicht jüdisch bin; Ich vermisse die Promenadenaussicht auf Jerusalem und die wilden Fahrten in den Bussen; Ich vermisse die Gesänge aus den Lautsprechern, die den Shabbes einläuteten und ausklingen ließen; Ich vermisse es zum Shabbat eingeladen zu werden;

Ich vermisse mein Israel.