Kennengelernt haben wir Gretel kurz vor ihrem 100. Geburtstag auf Vermittlung unseres deutschen Freundes Michael. „Du hast doch Interesse an deutschen Jeckes?“ so fragte er uns, als wir ihn in Haifa besuchten. Und so machten wir uns auf ins Elternheim Beth Horim Rishonei HaCarmel, wo Gretel bereits seit über 24 Jahre lebte. Nach dem Anklopfen öffnete sich die Tür. Der Blick, der einen Augenkontakt auf ähnlicher Höhe erwartet hatte, traf nur die Wand. Erst viel tiefer traf unser Blick die wachen und koketten Augen der Gretel. Wir wurden herzlich auf einen Cognac eingeladen. Mein Einwand, dass wir ja noch in die Synagoge zum Erew-Shabbat-Gottesdienst gehen würden, wischte sie bestimmt beiseite. Mit Cognac singt es sich besser, sagte sie energisch. In diesem Urlaub besuchten wir sie nochmals. Wieder wurde der Kaffeetisch um einen Cognac ergänzt. Wir bestaunten die Servietten bedruckt mit dem Frankfurter Stadtplan und erfuhren so in groben Zügen ihre Lebensgeschichte.
Gretel Baum wurde am 9. Februar 1913 in Frankfurt am Main in eine gutbürgerliche Familie im Westend geboren. Sie war die Großnichte des Reformrabbiners Abraham Geiger. Früh wurde sie Zionistin und ergänzte sehr zum Unmut ihrer Eltern den Pessach-Seder Wunsch um den traditionellen Spruch „Nächstes Jahr in Jerusalem“. 1934 verließ sie ihre Eltern und reiste nach Palästina – aus Überzeugung, nicht wegen Hitler, wie sie nicht müde wurde zu betonen.
Ihre Mutter, Julie Baum, geb. Geiger besuchte sie 1936 in Palästina. Aber da sie mit den einfachen und primitiven Bedingungen des Landes wohl nicht klar kam, fuhr sie nach Frankfurt zurück. Vor allem die letzten Elternbriefe aus dem Jahr 1941 waren verzweifelte Hilferufe nach einer möglichen Auswanderung. Nur wenige Tage nach dem letzten Brief wurden Julie und Norbert Baum mit dem ersten Transport zusammen mit rund 1000 anderen Frankfurter Juden deportiert. Von der Frankfurter Großmarkthalle wurden Julie und Norbert Baum, gepfercht in Viehwaggons, ins Ghetto von Łódż transportiert. Ihre Mutter erhängte sich dort 1942 aus Angst vor der Deportation ins Vernichtungslager, ihr Vater starb an Hunger oder einer Seuche – vollkommen geklärt ist sein Schicksal bis heute nicht. Zwei Stolpersteine am Reuterweg Nr. 73 erinnern seit 2011 an ihr Schicksal. Die Erinnerung an ihr schreckliches Ende im Ghetto Łódż hat Gretel zeit ihres Lebens keine Ruhe gelassen.
Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Rudolf ist zeitig nach Amerika ausgewandert und hat als amerikanischer Soldat Deutschland vom Hitler-Faschismus befreit. Mit einer US-Panzerbrigade fuhr er durch seine Heimatstadt Frankfurt und half, an seinem 30. Geburtstag das KZ Buchenwald im April 1945 zu befreien. Über Umwege traf er seine geliebte Schwester Gretel 1947 in Palästina wieder.
Gretel – die Anrede Frau Baum-Merom kam nie in Frage – war eine sehr gepflegte Erscheinung. Neben den gut frisierten Haaren waren die stets lackierten Fingernägel auffallend. In ihrem ganzen Benehmen erinnerte sie uns an jemand anderes. Das Gedicht Heilige Nacht von Erich Mühsam brachte letztlich ans Licht, dass Loni Bonwitt, die wir seit Jahrzehnten auf dem Carmel in Haifa besucht hatten, ihre beste Freundin war.
Gretel steht vielleicht stellvertretend für eine Generation deutscher Juden, die durch rechtzeitige Flucht aus Nazi-Deutschland die Shoa überlebten und im fortgeschrittenen Alter eine große Offenheit gegenüber Deutschen zeigten. Gretel wurde nie müde, den Deutschen Israel nahe zu bringen. Vielen Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen-Friedensdienste hat sie von ihrer Geschichte und von Israel erzählt. Am 4. Juni 2015 wurde Gretel Baum-Merom dafür von der deutschen Botschaft in Tel Aviv mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
Das Geschenk ihrer Freundschaft, ihr Vertrauen in uns Nachkriegsdeutschen konnten wir nie hoch genug schätzen. Wir haben ihr Geschenk dankbar angenommen. Die letzten Jahre waren für Gretel nicht leicht. Gesundheitlich ging es ihr immer schlechter, häufiger musste sie wegen der Stürze ins Krankenhaus aufgenommen werden. Aber geistig blieb sie wach und rege. Sie sagte mehrmals, dass sie eigentlich nicht mehr Leben wolle aber vor dem Tod Angst hatte. Wir telefonierten mehrmals. So rief sie mich im Januar 2018 an und wünschte mir gute Besserung nach meiner Blinddarmoperation. Ich fragte, wie es ihr ginge. Sie antwortet: „Na, wie soll es einem alten 104-jährigen Weib so gehen? Ich sitze hier und warte auf mein Lebensende.“ Ich antwortete ihr: „Aber vorher kommen wir nochmals vorbei und besuchen dich.“ Wir beide lachten laut. Im April 2018 haben wir sie nochmals in unserem geliebten Haifa besucht und tranken einen Schluck Cognac. Und sie sprach von ihrer Angst. Nun hat sie ihre Angst überwunden. Sie verstarb am 26. Januar 2019, zwei Wochen vor ihrem 106. Geburtstag. Sie wird uns sehr fehlen, wenn wir Israel demnächst wieder besuchen. Mit ihr verlieren wir unsere letzte Jeckes in Israel, mit ihr verlieren wir eine warmherzige und stolze Botschafterin Israels. Ruhe in Frieden, liebe Gretel.