Mirjam Ohringer auf der 50-jährigen Jubiläumsfeier von ASF in Berlin
Am 29. Mai 2016 ist Mirjam Ohringer mit 91 Jahren in ihrer Heimatstadt Amsterdam gestorben. Die ehemalige Widerstandskämpferin (*1924) war langjährige Wegbegleiterin und Freundin von ASF-Freiwilligen. Sie wuchs als Kind jüdisch-polnischer Eltern in den Niederlanden auf, während ein großer Teil ihrer Familie in Deutschland lebte. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg stand sie in engem Kontakt zu Flüchtlingen aus dem nationalsozialistischen Deutschland und beteiligte sich, als die Niederlande von Deutschland besetzt wurde, an Widerstandsaktivitäten. Mirjam Ohringer war verheiratet, hat vier Kinder, viele Enkel und Urenkel. Sie war Vorsitzende des niederländischen Freundeskreises Mauthausen (Stichting Vriendenkring Mauthausen) und nahm oft an internationalen Jugendtreffen in der Begegnungsstätte Dachau teil. Mit ASF kam sie im Jahr 1979 über eine Ausstellung des deutschen Widerstands in Kontakt. Im Folgenden möchten wir uns an eine Rede erinnern, die sie 2008 auf der 50-jährigen Jubiläumsfeier von ASF hielt.
von Mirjam Ohringer
Bevor ich meinen Glückwunsch an die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste richte, muss ich folgendes erzählen: An dem Sonntag vor meiner Reise auf Einladung von ASF nach Berlin traf ich mich mit Freundinnen, ehemaligen Widerstandskämpferinnen, bei der Feier einer 90-jährigen Freundin. Beide waren ebenfalls zum Jubiläum eingeladen worden, aber eine von ihnen musste aus gesundheitlichen Gründen absagen, die andere wird in Kürze eine Ausstellung zu ihrer künstlerischen Arbeit eröffnen. So legten sie mir ans Herz: "Was auch immer Du den jungen Menschen von Aktion Sühnezeichen sagst, vergiss nicht, es auch in unserem Namen zu tun." Darum will ich mich unserer dreier Namen mit einem ganz, ganz herzlichen Glückwunsch an die ASF wenden, ihnen gratulieren zu dieser wundervollen Initiative, die vor 50 Jahren begonnen wurde, und Sie beglückwünschen für diese 50 Jahre erfolgreicher Arbeit, von der wir meinen, ihre Zeuginnen zu sein. Die Menschen, die zu uns kommen, erfüllen uns immer wieder mit Hoffnung. Bei all diesen guten Gefühlen können Sie sich vielleicht vorstellen, wie merkwürdig mir heute am Yom HaShoah zumute ist. Hier zu stehen im Herze dieses Landes, wo vor 70 Jahren, Ende Oktober 1938, all meine Verwandten, die ich in Deutschland hatte, meine Großmutter, die Geschwister meiner Eltern, ihre Familien, ihre Kinder, insgesamt etwa 30 Menschen, im Rahmen der Deportation von 20.000 Ostjuden verschleppt worden sind. Von hier. Wie es genau vor sich gegangen ist, habe ich erst zehn Jahre später erfahren von einem Cousin, der mit seiner Schwester und einem weiteren Cousin als einzige der 30 Verwandten überlebt hatte.
Es ist ein Ereignis, das ich nicht vergessen kann, weil es eine so große Rolle in meinem Leben gespielt hat, besonders die Verwandten, zu denen ich vor 1933 als kleines Kind jährlich zu Besuch kam, um bei meiner Großmutter, geborgen in der Wärme der Familie, Pessach zu feiern. Im Hof spielten wir mit den Nachbarskindern, von denen ich nicht weiß und nie wusste, ob sie Juden waren oder nicht. Meine Familie war sehr fromm, aber Menschen sind Menschen und wir verhielten uns gegenüber allen gut. Das war die schönste Erinnerung meiner Kinderjahre.
Und ich will dieses Ereignis nicht vergessen, weil niemand mehr daran denkt, dass die Deportation von 20.000 Juden in einer Nacht nach Polen das Vorspiel von dem war, was später als "Reichskristallnacht" bekannt wurde. Von der "Reichskristallnacht" hat jeder gehört, aber es kommt mir immer so vor, als glaube man, sie sei aus heiterem Himmel geschehen. Nein, diese Deportation war ihr Vorspiel.
Auch in dieser Nacht hat es Gutes in Deutschland gegeben. Die Menschen, die als erste Antifaschisten in den 1920er Jahren vor den Nazis gewarnt haben, waren auch die ersten, die nach dem 30. Januar 1933 in die Nachbarländer Deutschlands, auch in die Niederlanden, geflohen sind. Sie waren illegal und mussten sich verstecken, von uns versteckt und am Leben gehalten werden. So jung wie ich war, habe ich daran teilgenommen, weil das für meine Eltern, für den Kreis, in dem ich aufgewachsen bin, selbstverständlich war. Ich erwähne diese Menschen, denn sie waren in meinen Augen das Beste, was Deutschland zu bieten hatte. Ihre Lehren, ihr Wissen darüber, wie man sich zu verhalten hatte, woran gedacht werden musste, um Widerstand gegen die Nazis zu leisten, diese Lehren haben uns geholfen zu überleben.
Ich habe nicht nur Glück gehabt. Mein Glück war eng daran geknüpft, dass ich durch Beziehungen und meine Teilnahme am Widerstand mit Menschen in Berührung kam, die bereit waren, mich aufzunehmen und zu verstecken, als es 1942 soweit war. Dafür bin ich sehr dankbar. Die Lehren dieser Menschen, dieser ersten Widerstandskämpfer aus Deutschland, die immer vergessen werden - und das ist ein Unrecht - vor allem diesen Lehren verdanke ich es, dass ich überlebt habe.
Im Jahr 1979 erzählte mir ein ehemaliger Häftling des KZ Sachsenhausen, dass er von der Deutschen Botschaft zu einer Ausstellung über den Widerstand in Rotterdam eingeladen worden war. Ihn empörte diese Ausstellung sehr, denn sie handelte ausschließlich vom Kreisauer Kreis. Noch heute habe ich seine Worte im Ohr, denn dieser Mann war es auch, der mir von einer wunderbaren Ausstellung in Amsterdam, im Herzen des alten jüdischen Viertels erzählte - eine Ausstellung der Aktion Sühnezeichen über das Entstehen und die Entwicklung des Nationalsozialismus in Deutschland und den deutschen Widerstand von Anfang an, sogar ins Niederländische übersetzt.
Ich ging sofort hin und so begann meine Beziehung zu ASF. Es dauerte nicht lange bis der Koordinator mich fragte, ob ich nicht ein Zeitzeugengespräch mit jungen deutschen Freiwilligen führen wolle. Natürlich und gerne! Das war die erste Begegnung mit jungen ASF-Freiwilligen - Kindern, für mich bleiben sie Kinder, obwohl sie das nicht gerne hören, aber es ist nun mal so: Sie sind jünger als meine eigenen Kinder und ich habe Enkel, die älter sind. Aber es war wunderbar. Es waren herrliche Gespräche und ihr Wille, ihr Friedenswille, den sie mit ihrem Sein bei uns getragen haben, mit ihrer Neugierde, mit ihrem Bedürfnis zu wissen, was geschehen ist und was wir überlebt haben - das, und es klingt vielleicht merkwürdig, das hat uns gut getan, hat uns geholfen, alles zu verarbeiten und das tut es noch immer, Jahr für Jahr.
Der heutige Tag war für mich ein ganz besonderer, denn während des Geh-Denk-Gottesdienstes kamen immer wieder ehemalige Niederlande-Freiwillige verschiedener Generationen zu mir, die mich erkannt hatten. Ich musste fragen: "Wie war noch dein Name?" Ich verstecke mich dann immer hinter meinen Jahren, es ist wie es ist, aber ich habe mich so gefreut und sie haben sich gefreut. Von allen Generationen waren Menschen da, auch von der ersten Gruppe 1982, die ich betreut und mit denen ich herrliche Gespräche hatte.
Im Rahmen des Jubiläum-Vorprogramms hatte ich Treffen mit Menschen, die noch jünger waren als die ASF-Freiwilligen: Es war unglaublich, wie sich die Kinder mitreißen ließen von dem, was ich erzählt habe. Sie hatten so viele Fragen, hörten aufmerksam zu, wollten von den ASF-Freiwilligen, die mich begleiteten, wissen, wie es denn wäre, mit ASF unterwegs zu sein. Wer weiß, welche Hoffnung bei diesen Schülern liegt.
Ich will es nochmal sagen: Ich danke ASF nicht nur für ihre Initiative, sondern auch für die Einladung, und ich danke für diese gute Arbeit mit den jungen Menschen, denn wenn es die ersten deutschen Widerstandskämpfer waren, die mir damals als das Beste galten, das Deutschland zu bieten hatte, so sind es heute diese Jugendlichen, die Freiwilligen von ASF, die für uns Überlebende das Beste sind, was Deutschland uns überhaupt geben kann. Ich freue mich, mit ihnen hier zu sein und ich hoffe, dass es noch viele Jahre weitergehen kann mit ASF, auf dass es immer eine neue Generation ASF-Freiwilliger gebe, die miteinander und gemeinsam mit unserer Jugend helfen, eine friedliche Welt zustande zu bringen, damit meine Enkel und Urenkel ebenso wie die Kinder aller Menschen der Welt in Frieden leben.
Nachtrag: Am Sonntag, 12. Juni 2016, 11 Uhr wird in der Versöhnungskirche Dachau eine ökumenische Trauerfeier für Mirjam Ohringer und den ebenfalls kürzlich verstorbenen Hermann Scheipers stattfinden.