Wir trauern um Wladimir Schnittke

© Galina Schkolnik

Wir sehen ihn vor uns in seiner bescheidenen Art, mit seiner klaren Haltung - Memorial-Mitbegründer Wladimir Schnittke verstarb am 12. Januar.

Wladimir Schnittke (geboren am 27. Februar 1939)

Am Beginn stand ein Austausch, den die Berliner Evangelische Akademie organisiert hatte: Im Oktober 1990 fuhr eine Aktion-Sühnezeichen-Delegation zu Memorial nach Leningrad, im November erfolgte der Gegenbesuch in Berlin. Mit dabei war der Dissident und Memorialmitbegründer Wladimir Schnittke. Aktion Sühnezeichen und Memorial vereinbarten für 1991 ein zweiwöchiges Sommerlager und die Entsendung von zwei Freiwilligen für zunächst drei Monate. Eine davon war ich.

Wladimir Schnittke war derjenige, der alles organisierte: den Freiwilligendienst im Krankenhaus für Kriegsveteranen und das anschließende Sommerlager. Dazu ein umfassendes Besuchsprogramm, das uns dank seiner Kontakte einen ganz besonderen Einblick in das gesellschaftliche Leben seiner Stadt gewährte (wie später auch Jahr für Jahr den Reisegruppen von ASF).

Im Frühling 1991 öffnete mir Wladimir Schnittke in Leningrad unbekannte Welten: Ich erfuhr von der Leningrader Blockade, lernte GULag-Überlebende kennen und hörte in der „Woche des Gewissens“ Vorträge von Dissidenten. Herr Schnittke erklärte uns alles, besorgte uns Lebensmittel (die es nur auf Marken gab), stellte uns einen Fernseher zum besseren Spracherwerb ins Zimmer und machte uns mit anderen Memorial-Mitgliedern bekannt. Wahrscheinlich sind nur wenige Freiwillige so gut von Herrn Schnittke umsorgt worden wie wir. Denn Memorial Sankt Petersburg, das 1989 entstanden war, wuchs und übernahm immer mehr Aufgaben. Aber viele von uns erinnern sich voller Dankbarkeit an Wladimir Eduardowitsch, wie wir ihn mit Vor- und Vatersnamen anredeten.

Stefanie Schiffer, die damals für den Deutsch-Russischen Austausch nach Sankt Petersburg kam, erinnert sich: „Er war die erste Person, die wir gesehen haben nach der zweitägigen Zugfahrt, die uns im November 1992 nach St. Petersburg brachte. Er stand im Schnee, hat uns begrüßt. So freundlich!“
Und der ehemalige Polen-Freiwillige Rudi Piwko, der zusammen mit Franz von Hammerstein die eingangs erwähnte Begegnung für die Evangelische Akademie organisiert hatte, schreibt: „Es gibt wenige Menschen, die eine solche Integrität gelebt haben wie Vladimir Eduardovič. Unerreichbar in der ethischen Dimension und auch immer etwas fern für mich.“
Wieder anders erlebte der ASF-Freiwillige Lothar Linzen ihn: „Er war ja immer sehr beschäftigt. Das Telefon ging fast immer. Aber ich hatte den Trick raus, mit ihm gemütlich zusammenzusitzen. (…) Wenn er erzählt hat, dann wurde er immer sehr jung. Er hat viel von seinen Expeditionen nach Sibirien erzählt – von der Erforschung des Einschlags des Tunguskischen Meteoriten, (…) und wie sie gemeinsam auf Fischfang gingen.“
Der ehemalige ASF-Freiwillige Jan Plamper erinnert sich, wie er anlässlich der Vorbereitung einer Beerdigung, um die Wladimir Schnittke sich kümmerte, erstmals eine Leiche sah: „… für Schnittkes sensibles Verhalten werde ich ewig dankbar sein. Was für ein guter und gütiger Mensch. Schnittke war das Gegenteil eines Zynikers, er glaubte fest an das Gute im Menschen und an die Möglichkeit positiver Veränderung.“

Umso mehr haben Wladimir Schnittke die Gerichtsbeschlüsse zur Liquidierung von Memorial International und des Moskauer Menschenrechtszentrums Memorial Ende des Jahres geschmerzt. Er fragte immer wieder danach, und auch nach seinem karelischen Memorial-Kollegen Jurij Dmitriev, der zu 15 Jahren Haft verurteilt worden ist. „Wie hält sich Jura?“ fragte er, „Wie geht es ihm?“ Die über 30 Jahre, die ich Wladimir Schnittke kannte, begannen mit einem hoffnungsvollen Aufbruch in eine demokratischere Gesellschaft und endeten mit Verhaftungen und Verboten derer, die sich für diese Gesellschaft engagieren.

Und dennoch war nichts vergeblich, was Wladimir Schnittke getan hat: sich für andere Menschen einzusetzen statt den eigenen Vorteil zu suchen; zum Wohle der ehemals Repressierten zu wirken, die oft krank, arm, alt und allein waren; die Haftbedingungen von Strafgefangenen und deren Resozialisierungschancen zu verbessern – dies alles kam ungezählten Menschen zugute, hat sie ermutigt, erfreut, ihr Leben erleichtert. Er hat Gesetzestexte formuliert, in Menschenrechtskommissionen mitgewirkt, Initiativen gegründet. Auch Memorial Deutschland wurde durch ihn inspiriert. Und für ASF ist Memorial Sankt Petersburg ein fester Partner geworden. Das alles bleibt und wird weiter wirken.

Wer mit Wladimir Schnittke zusammenarbeitete, ahnte oft nicht, wie eng er biografisch mit den Inhalten seiner Arbeit verbunden war: dass er, der Zeitzeugen der Leningrader Blockade für Podiumsgespräche empfahl, selbst ein Blockadekind war; dass er, der sich für politisch Verfolgte einsetzte, in den 1960er Jahren als Dissident vor Gericht gestanden hatte und mit beruflicher Degradierung bestraft worden war; dass er, der sich für Roma engagierte, wusste, wie sich Diskriminierung anfühlt (als er nämlich in den 1990er Jahren im kommunalen Wahlkampf einer antisemitischen Kampagne ausgesetzt war). Wir sahen seinen unermüdlichen Einsatz für andere, wussten aber wenig über das Leben des Menschen dahinter.

Wladimir Schnittke hat viele von uns geprägt. Ohne ihn wäre mein Leben ein anderes, und ich bin ihm dankbar für alles, was er mit mir teilte, mir mitgab, und was ich versuchen werde, weiterzutragen.
Wir sehen ihn vor uns in seiner bescheidenen Art, mit seiner klaren Haltung, seinem freundlichen Lächeln. Was für ein guter und gütiger Mensch!

 

Uta Gerlant beteiligt sich seit 1982 an Aktion-Sühnezeichen-Sommerlagern, war 1991 Freiwillige bei Memorial in Sankt Petersburg, wirkte als Leitungskreisvorsitzende (1990-1994) an den Verhandlungen um die Vereinigung von Sühnezeichen Ost und West mit und war 2004 bis 2010 im ASF-Vorstand. Seit 2011 ist sie Mitglied des Kuratoriums von ASF.

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